Reinhard Lechner liest „Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können. Lieder und Texte“, von Ragnar Helgi Ólafsson
Abwechslungsreich präsentieren sich uns die Gedichte von Ragnar Helgi Ólafsson im Elif Verlag in der Übersetzung von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer. Der isländische Schriftsteller beherrscht ein breites formales Handwerk, mit dem er seine Lieder und Texte vorlegt. Thematisch sind es philosophische Gedichte, auch Liebeslyrik ist dabei, religiöse und poetologische Reflexionen.
Foto © Reinhard Lechner
Formal begegnen uns die Gedichte gebunden oder wie in freien Rhythmen, gelegentlich als Konkrete Poesie. Dabei zieht sich ein zentrales Motiv durch: die menschliche Wahrnehmung, die in ständiger Bewegung ist zwischen dem liebenden Staunen über die Dinge und dem Wunsch nach rationaler Zurichtung:
Alles lässt sich ändern – nichts ist unabänderlich – bis es bei seinem richtigen Namen genannt worden ist.
Ein bibliophiles Kleinod
Der isländische Dichter ist mir von meinem Verleger Paul Klingenberg ans Herz gelegt worden. Als wir über gelungene Buchcover diskutierten, zog Paul Ólafssons Gedichte aus dem Regal und zeigte sie mir, als ein Beispiel für einen besonders innovativen Einband: Das Buch mit einer offenen Klebebindung und dem zweifach ausgestanzten Cover – die Titelcollage lässt sich aufblättern – ist ein bibliophiles Kleinod wie Gerrit Wustmann in den Signaturen schreibt. Gelesen habe ich diese Winterlektüre in der Folge, wie ich Lyrikbände meist lese: Als Inspiration direkt beim eigenen Schreiben von Gedichten, interessiert vor allem am formalen und stilistischen Herangehen, oder auch als ein poetisches Wörterbuch für meinen Alltag (man schnappt sich den Band und blättert nach dem einem Gedicht, das einem für diese oder jene Situation aus dem Leben plötzlich wie ein Spiegel gemacht scheint).
Die umfassende Poetologie hinter seinen Gedichten verwundert nicht. Ólafsson arbeitet als Schriftsteller, er kann aber auch auf das Handwerk eines Grafikdesigners und Verlegers zurückgreifen. Geboren 1971 in Reykjavík, studiert Ólafsson dort Philosophie sowie Filmregie in New York, anschließend Französisch in Marseille und Kunst in Aix en Provence. Als Schriftsteller tritt er erstmals 2013 mit dem Roman Briefe aus Bhutan in Erscheinung. Es folgen ein Kurzgeschichtenband sowie 2015 eben sein erster Gedichtband Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können. Übrigens referiert der Dichter im Gedicht „Noch keine Postkarte“ ironisch auf seinen Bhutan-Roman:
Meine Freundin und ich wollen eine Holzhütte in Bhutan kaufen. Sie hat ein Dach aus Blech und steht Mitten auf einem Berghang, der mit tiefgrünem, hüfthohem Buschwerk bewachsen ist.
Gedichte einer zersplitterten Gegenwart
Ólafsson spielt inhaltlich und formal mit zahlreichen Registern des zeitgenössischen Gedichts. Dieses Spiel kündigt er an mit einem Zitat des buddhistischen Mönchs Ryokan Taigu: “Wenn du verstanden hast, dass meine Gedichte keine Gedichte sind, dann können wir uns hinsetzen und über Dichtung sprechen“. Warum diese Vielschichtigkeit, warum kein einheitlicher Ton, warum seine ständige De-konstruktion? Der Bandtitel trägt es in sich: Der menschliche Erfahrungsmodus ist in der nachmodernen Gegenwart in viele Teile zersplittert, wir betreiben ständig Multitasking oder spielen einander vielerlei Beschäftigung zumindest stolz vor. Es soll schließlich von Intelligenz zeugen, nicht mehr länger konzentriert einer Sache in die Tiefe nachzugehen, sondern mehrere Aufgaben zugleich abzuarbeiten. Der Preis ist, dass wir zunehmend unkonzentriert, unaufmerksam werden, für unsere Umwelt, unsere Mitmenschen und uns selbst, und dass wir uns nicht mehr in der Gegenwart finden können. Daran arbeiten die Gedichte sich multimodal ab.
Manche Gedichte funktionieren dabei mit ironischer Brechung auf der Bildebene, etwa Finger der Venus:
Der Kern der Sache ist folgender: Es sind so viele Gedichte möglich, aber nur wenige sind notwendig. Die zuletzt genannten lassen sich an den Fingern Einer Hand der Venus von Milo abzählen.
Andere Gedichte transportieren ihre Aussage als Textbild mit den Mitteln Konkreter Poesie. Besonderen Witz etwa hat „Der Unterschied zwischen einer Strasse und einer Ringstrasse* im Uhrzeigersinn/gegen den Uhrzeigersinn (i.v.z. Rechtsverkehr)“ (S. 17). Die Hauptverkehrsroute Islands, die sogenannte Ringstraße, wird darin mit Versen bedichtet, die einen unentrinnbaren geschlossenen Kreisverkehr im und gegen den Uhrzeigersinn bilden. Ólafssons Gedichte haben meist Poesie und philosophischen Tiefgang zugleich. Sie machen Spaß und sind melancholisch, wenn sie sich etwa daran versuchen, die Trübsal als physikalische Gesetzmäßigkeit zu fassen. So heißt es in Das Trübsalsgesetz:
Wenn du einen Gegenstand in den Weltraum schickst, auf einen stabilen Kurs, in eine Welt ohne Widerstand und Schwerkraft, wird er seine Richtung und Geschwindigkeit auf ewig halten es sei denn, er stößt gegen einen anderen Gegenstand. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei fünfzig Prozent (-das schon) (-doch nicht mehr)
Aus dieser handwerklichen Breite heraus besticht das Buch mit vielen starken Gedichten genau solcher Machart und mit ein paar schwächeren Texten, die formal regelrecht ausgearbeitet mit ihrer Aussage ein wenig plump daherkommen (S. 63, S. 79), etwa das Dunkelwerk (Magnum Opus):
In der Nacht befasse ich mich mit Alchemie. Das ist mein Hauptberuf. Die Tagesarbeit ist nur ein Vorwand, um die Nachtarbeit vor mir selbst geheim zu halten. (Das erklärt die Augenringe, nach denen du heute Morgen gefragt hast.)
Die Stärke des Bandes, seine Vielfältigkeit, ist beim Lesen zugleich als seine kleinere Schwäche erkennbar. So viel an poetischen Formaten begegnet uns in diesen Lyrikband, dass man sich beim Lesen mehr Schwerpunkt wünscht. Aber genau dort will Ólafsson nicht hin. Die kaleidoskopische, vielfach gebrochene Gegenwart will er in seinen Gedichten fassen und dies gelingt ihm hervorragend.
Ragnar Helgi Olafsson: Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können. Lieder und Texte. Isländisch / deutsch. Übersetzt von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer. Nettetal (Elif Verlag) 2017. 144 Seiten. 18,00 Euro.
Cover © Elif Verlag