E. A. Richter
poetisches Denken ergibt sich schon auf dem Fensterbrett, auch bei geschlossenen Jalousien – enger Blickwinkel, von draußen nur das Ungefähre, das durchscheint, je nach Sonnen- und Mondstand. Dazu die kahlen Bäume mit Sicht auf gestutzte Hecken, verschlossene Tore und hellblaue Häuserfronten, fremde Gartenordnung, Eingrenzungen mit Schlitzfenstern für Spaziergänger, mit oder ohne Hund. Poetisch in diesem Moment der Ruhe Knallerei und Gebell, damit Hinwendung zum aufgeregten Welpen inmitten der Gedenkstätten an den Anschlag. Poetisch die Überbleibsel, vertrocknete Sträuße, nicht weggewaschene Markierungen. Poetisch die dort noch immer aufgepflanzten Wega-Polizisten, geschwärzte Gesichter, Tarnuniformen, demonstrativ martialisch. Aktuelle Poetik scheut sich nicht vor dem Anblick Qiang Lis, seinem hinter die nun fest verriegelte Tür gefallenen Schatten, nicht vor der Nachricht von angeblich nur leichten Verletzungen, der Suche in den Spitälern nach ihm, dem Zusammenbruch Peng Xias, Kexin Lis, Wendy Lis, hat auch kein Problem mit dem Kreuz anstelle der Leiche des Attentäters, auch nicht mit den Teelichtern, die jemand immer wieder entzündet, inmitten der Markierungen der Kugeln, der Beweiskraft wegen gleich aus dem Pflaster entfernt. Poetisches Denken versöhnt die Dinge, nicht aber die Fragen. Antworten verweigern sich, Fragen pflanzen sich fort. Orte des Todes gewähren keine Verklärung, vermehren aber Beständigkeit, nähren sich aus jedem entschwundenen Leben
E.A. Richter, *1941, zehn Gedichtbände, zwei Romane, Hörspiele, Drehbücher; 1970–1986 Redakteur der Zeitschrift Wespennest. 1986–1998 bildender Künstler unter dem Namen Richtex. Zuletzt: An Lois. Gedichte (2019).
Dieses Gedicht von E.A. Richter erschien in Fernausdehnung. Manuskript.
Abgedruckt in: Wien, Schwedenplatz polyphon. Arrangiert von Lucas Cejpek & Margret Kreidl, Sonderzahl Verlag 2023.
Der Dichter E.A. Richter liest am 15. Mai 2023 um 19:00 mit Ludwig Hartinger beim Lyrikfestival „dichterloh“ in der Alten Schmiede.