Evelyn Bubich liest Anja Bayers ungewusstes fell
wird Gras darüber wachsen was wir uns antaten an Taten und Unterlassungen
Als ich Anja Bayer zum ersten Mal las, und ihr ungewusstes fell, war es Frühling und die Welt keine stillere und keine lautere als heute vielleicht, das Blut floss durch uns, und immer schon mitten ins Herz.
Bayers Gedichte drangen damals so ähnlich und in seltsamer Weise in mir vor, und irgendwie war dieser Vorgang zeitlich gelöst, ließ ich die Texte eben vordringen. Lag währenddessen in einem fremden Zimmer, in einer fremden Stadt, wie in einen Sog zogen mich die Wörter, auf dem Cover des Gedichtbands: diese papierene Iris aus Fell.
Foto © privat
blankschwitze ich mich Durch deine Falten hin zu der Unruhe die mich gestern befiel habe die Mundwinkel durcheinandergebracht
(K)eine ganze Welt liegt zwischen 2018 und 2023 – irgendwann in diesem endlosen Winter 2022/23 huscht mein Blick also übers Bücherregal und an seinem Ende: ungewusstes fell, also auf ein Neues. Ich schlag es auf. Ungewusstes fell aufschlagen, albern irgendwie, denk ich mir, vorauseilend. Auf dem Teppich vor dem Fenster, immer ein Ort, um mich davonzumachen, das Licht zu tauschen, einzutauchen. Und wieder die Suche nach dem Fell, nach den Schatten, nach denen man sich sehnt, von denen man nicht genug bekommen kann, eine Unruhe befällt mich, aber die, die etwas Gutes erahnen lässt. Ich ahne sie schon, diese fragile Wucht, achtzig-Seiten-konzentriert.
In diesem Moment »[zuckt] das Panorama« irisförmig auf … »das Rot«, es klatscht auf mich ein, »Papier oder ich / teilen / die Leere«.
Das kennt man. In solchen Momenten kann es ganz zitternd still werden, »in junge Schläfenfalten Kinder / leicht«.
Woher kommt das eigentlich, »kinderleicht«, wer hat das erfunden? Ein Löffelchen Leichtigkeit mit dem der Scherkraft tauschen. Das haben wir uns ja klug ausgedacht … Egal, aber dann:
»Tieraugen im Glas« starren mich an.
»eingeschwommene Luftsplitter / deine schmalen / Geräusche« und ich auf dem Teppich. Eine Krähe macht sich bemerkbar über mir. Ich beobachte sie durchs Fenster, das Geräusch, das sie von sich gibt, ist hindurchzuhören. Einen Augenblick später kreist sie auch nicht mehr allein am Himmel.
»Selbstzu / eignung und neigung« lese ich und habe »Angst vor« und »unter dem Kitsch«.
Doch wovor habe ich Angst? Plötzlich sehe ich da etwas, wie auf einer Leinwand vor meinem inneren Auge taucht es plötzlich auf. Eine distinguiert dreinblickende Dame mit schön geschwungenen Wimpern und nahezu tonlos verronnenem Lippenstift geht das Trottoir entlang, ihre Absätze schneiden in die Ruhe wie ein Stoffschere sich ihren Weg durch das Gewebe freilegt. Und ich bin konfrontiert mit einem lyrischen Ich, das ein lyrisches Du konfrontiert, nämlich damit, was überbleibt – »an der Stelle der Rippe«, woran es krankt – »Tulpenschorf«, »Mehltau auf den Feldern«. Und wie man sich den Weg durch das Gewebe und Gewese und Gewerde freilegt vielleicht.
Wie viel Tau haben wir noch von den Feldern, denk ich mir, und wenn es taut, sind es die Tiere, und die Pflanzen, die sich bemerkbar machen, der Lauf der Natur, in dem alles seinen Platz hat, in der wir alles durcheinanderbringen, »dem anderen / waage / die Distanz«, könnte es an einer Stelle heißen.
»sarge / mich in die / Lichtfalte / ein«, heißt es an einer anderen Stelle, die Ambivalenz hält der Ambivalenz den Spiegel vor, sie ist allgegenwärtig.
»was ich verschwende / ist / arglos und / unbekleidet, aufgeknöpft und verknüpft« […] »wo wohnt der Verstand?«
Aber: »wer hätte irgendein Recht?«
»Manche Leute mögen nicht, wenn Herz zu oft vorkommt. Ich mag Herz«, schreibt Anja Bayer in ihrem Nachwort, das sie den Lesenden aber nicht ans Herz legt. Es spricht aus ihr: das Herz. Und das weiß oft nichts von seinem Fell. Auch in diesem Winter nicht.
The sky before sunrise is … the sky erklingt Tilda Swinton aus dem Kopfhörer und ich weiß, es wird auch wieder Frühling, ganz gewiss.
Beim juvenilen Versuch, Bayers ungewusstes fell zu zeichnen, mit den billigen Kinder-Wasserfarben von IKEA, hat sich erst eine zugegeben mehr wasser- als blaureiche Linie in der Mitte des Papiers sehen lassen. Das war’s dann auch schon wieder. Wäre ich ein lyrisches Ich, mein Fell wäre nicht sehr dicht, aber mit Bestimmtheit: vorhanden.
Und schon wieder: die Krähen und ihr Kreisen. Shadow Journal in meinem Empfinden, die Klänge des Musikstücks von Max Richter flattert Wolken in mein Ohr. Sie sind lila und durchdringen Bestandloses mit Bestandhaltigem, dem ungewussten Fell eben.
Ich lese weiter in dem Buch, das alles offenlässt und sich spiegelt in sich selbst, betrachte Magrittes Mise en abyme eines weiblichen Oberkörpers in einem weiblichen OberkörperineinemweiblichenOberkörper, es erinnert mich an einen Traum, den ich mal hatte. Dahinter: das Meer. Stimulation ojective steht darunter. Ein Zufall, dass das Bild von Magritte, oder mehr sein Abbild, jetzt neben mir liegt. Irgendwas hatte ich doch vor mit dieser Kunstpostkarte, hab es wohl vergessen.
So ähnlich fühlt es sich an, dieses »ungewusste fell«, das auf dem Körper des lyrischen Ich aufgemalt ist. Sachte. Mit Worten, die in Rätseln sprechen und sie gleichzeitig zugänglich machen. Ein paar Türen stehen offen, sind es doch ganz
Geräusch- schnitte […] [die] etwas Weiches erübrigen wollen.
Anja Bayer: ungewusstes fell. Gedichte. Frankfurt a. M. gutleut verlag – reihe staben #6, 2016, 80 Seiten, Euro 17,-