Alexander Peer liest Michał Bukowskis Herzlichkeit der Wolken
Gerne hätte ich bei der Herzlichkeit der Wolken länger verweilt, aber sie zogen rasch vorüber. Der Gedichtband von Michał Bukowski ist eine dünne Wolke, die sich bald verflüchtigt. Bloß 46 Seiten weist er auf. Dabei hält er einige Einladungen fürs Weiterlesen bereit. Sicherlich ist die Reduktion eine Kernqualität lyrischen Schreibens, doch frage ich mich, hätte es nicht Sinn gemacht, hier nachzuhaken, um weitere Gedichte einzufordern, oder abzuwarten, bis neue entstanden sind?
Zumal der stattliche Preis von 18,90 Euro für ein Buch dieses Umfangs einfach nicht angemessen ist. Da wäre mehr editorisches Feingefühl nötig. Schließlich haben Gedichtbände ohnehin einen schweren Stand im Buchhandel, so wird er gewiss nicht leichter.
Cover © Wieser Verlag
Leerstellen als Bedeutungseinheit
Aber kommen wir zu den Gedichten selbst, schon das erste erzählt etwas mit den Mitteln seiner visuellen Form:
alter mensch alter mensch mit semmel im bahnhof ermüdete hände andächtig beim kaffee welke augen tief in der vergangenheit sehr sorgsam zerkaut er die einsamkeit
Die Möglichkeit, das Lesetempo zu variieren, ist einer der Vorzüge der Poesie. So sorgsam wie der Protragonist hier seine Semmel zerkaut, so sorgsam tastet man sich voran im Gedicht und nimmt auch die Leerstellen als Bedeutungseinheit wahr. Sie verzögern das Erfassen des Bildes und gewährleisten damit eine umso stärkere Wahrnehmung. Das Kauen legt Zeugnis ab von innerer Leere.
Gleichzeitig demonstriert dieses Beispiel eine zweite Qualität Bukowskischer Lyrik. Es ist die Suche nach einem griffigen Bild, welches den Geist erst bannt und dann in Unruhe entlässt. Das einzelne Bild vermag eine epische Stimulanz zu wecken. Welche Biografie ist in dieser Miniatur eingeschlossen?
Es sind vom Ballast befreite Gedichte, die sich hier versammeln. Auch wenn dieses Beispiel suggeriert, dass der Grundton traurig sei, so ist die Tonalität vielmehr von kindlichem Staunen geprägt. Es ist ein naiver Blick auf die Wirklichkeit, deren unverbrauchbare Zuwendung immer bereit zu sein scheint. Anschaulich etwa in folgendem Gedicht:
dem kleinen einen sonnenstrahl vom himmel werde ich stehlen leg dem kleinen unters kissen aber hüll vielleicht ihn in ein freundlich wort so eins von mir so eins wie immer Epigramme und Haikus
Es finden sich einige wenige längere Gedichte in der Herzlichkeit der Wolken. Vorwiegend sind es Miniaturen. Einige Texte lassen sich als Epigramme lesen, die in knapper Stammbuchlänge oft Sinnstiftendes vermitteln und als klare Botschaften zu verstehen sind. Epigramme dienten in der Antike manchmal als Grabinschriften, sie sollten zuweilen mahnend sein und dem Andenken des Verstorbenen ein Stück Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Als epigrammatische Gedichtform schlechthin kann man den Haiku betrachten. Bekannt ist seine dreizeilige Gliederung mit der Silbenzahl 5–7–5. Mitunter wird unterschlagen, dass es zum Wesen des Haikus gehört, dass aus den ersten beiden – zunächst bezuglos zueinander erscheinenden – Gedanken der dritte wie ein Vernunftschluss abzuleiten ist. Darin liegt oft der Erkenntnisschub. Leserin und Leser sind somit als engagierte Mitarbeiter*innen verpflichtet, die Arbeit der Dichtenden zu Ende zu führen. Die Folge ist die Einprägsamkeit solcher Miniaturen. Bei Bukowski finden sich einige dieser Haikus, manchmal sind es jedoch einfach Dreizeiler, die auf die Strenge der korrekten Silbenzahl verzichten.
Je konziser ein Text, umso größer droht jedoch die Fallhöhe zu werden. Lässt sich denn die Genialität der Aussage wirklich halten? Dieses Damoklesschwert des zu wenig selbstkritischen Schreibens schwebt über vielen poetisierenden Köpfen. Bei Bukowski ist es dank der kindlichen Tonalität, die gewiss den Reiz der Sammlung ausmacht, manchmal unklar, ob es eine große oder schlicht banale Erkenntnis ist:
das weh der abflüge der vogel, wenn er schon fliegt blickt nur nach vorne – der baum aber bleibt
Nur selten trifft ein Gedicht so richtig ins Mark und schafft jenen poetischen Echoraum, den wir uns wünschen. Verständlicherweise wurde dieses Gedicht auf der Rückseite des Buchs abgedruckt, denn hier überraschen die an sich vertrauten Bilder, weil sie sich unverbraucht aufeinander beziehen:
wie entsteht ein gedicht worteberührung hungriger raum des papiers dein lächeln
Hier blicken wir auch auf das immer wiederkehrende Motiv, das diesen Band durchzieht. Es ist das Lächeln, das in verschiedenen Formen den Bezug von Innen und Außen nährt und dazu ermuntert, sich auf Begegnungen einzulassen.
Michał Bukowski: Herzlichkeit der Wolken. Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec, 2023. 46 Seiten. Euro 18,90