Now Reading
Epitaph mit Echo

Epitaph mit Echo

Logo Besprechung I

Alexander Peer liest Hugo Ramneks Die längste Nacht


Eine Collage der Abschiede erwartet Lesende beim Aufschlagen von Hugo Ramneks Die längste Nacht. Selten tritt der Tod derart dominant in einem Band auf, ohne dabei ins Morbide abzugleiten. Dabei ist mehrmals von Krankheiten die poetische Rede. Auch das sukzessive Verschwinden mit dem Älterwerden, das der Autor plastisch vor Augen führt, lässt den Wunsch verstehen, dass es endlich vorbei sein möge. Die lakonische Tonalität vermeidet jedoch jedes hohle Pathos und damit Fallstricke, die mit dem Themenkomplex der Endlichkeit verbunden sind.

Ferner ist der Blick auf die Zurückgelassenen gerichtet. Es ist oft ein Kind, das Eltern loslassen muss. Wie schwer es ihm fällt, ja wie unmöglich dies erscheint, zeigen selbst minimalistische Feststellungen.

Cover © Wieser Verlag

So besteht das Gedicht „Zeichen II“ nur aus diesem Hinweis: „Und unter dem Türspalt / Kein Licht“. Das Zimmer dient mehrfach im Buch als Sinnbild einer grundlegenden Veränderung im familiären Haushalt. „Elegische Flüchtigkeiten“ heißt es im Untertitel zu diesem Poesiealbum der Vergänglichkeit. Der scheinbare Gegensatz wird mit der zitierten Miniatur offenbar. Selbst das beiläufige Detail verweist auf das ganze Leben, das abhanden gekommen ist.

Verschwundene Verbindungen

Im Zentrum stehen Vater und Mutter, aber es ist ein Ensemble an Verabschiedungen, welches Ramnek hier auf die Bühne bittet. Darunter auch den Schweizer Autor Jürg Amann, der 2013 verstorben ist. So entsteht ein literarischer Friedhof jener Verwandten und Bekannten, mit welchen der Autor im Nahverhältnis war. Dem Leitmotiv des Sterbens Nuancen abzuringen tut aber Not. Das weiß der in Zürich lebende Schriftsteller und Lehrer. Er arrangiert deshalb nachdenkliche wie geradezu ironische Vermessungen des Unausweichlichen. Im Text „Maturatreffen“ liest sich diese Endzeitfixierung wohltuend vergnüglich.

Klassentreffen des Sohnes
Wen triffts als Ersten?

Klassentreffen des Vaters
Wen triffts als Nächsten?

Klassentreffen des Großvaters
Keiner mehr zu treffen

Diese Sentenzen zielen auf den kathartischen Witz, der meist aufgeht. Mancher Kalauer hätte nicht sein müssen, wenn es etwa im Gedicht „Schnitt“ heißt: „Sie lag nicht im Sterben / Sie starb im Liegen“. Denn gerade die gleichzeitige Nähe wie Distanz von Kindern und ihren Eltern schaffen in diesem Band zarte Berührungen, da stören Blödeleien. Das Motiv der Trennung wird zum Beispiel in einem Text anhand der Fensterscheibe deutlich. Der einerseits begrenzte Ausschnitt, der die Sichtbarkeit des jeweils anderen konzentriert und andererseits als Material die Unerreichbarkeit betont. Das Fenster im doppelten Wortsinn ein durchschaubares Motiv der Unnahbarkeit. Noch gravierender ist die Distanz im Erkennen einer Generationenzugehörigkeit spürbar:

Statt

Mutter erzählt von früher
Das Vergangene ist
Ihre Gegenwart
Seine findet in
Ihrer Gegenwart
Nicht statt

Es ist die ewige Geschichte von Nachkommenden, die immer woanders sind als die Vorfahren. Dabei fällt der mittlerweile erwachsene Sohn gerade im Abschiednehmen, wo die Alten wie Kinder werden, in sein Kindsein zurück. Im „Mamakuchen“ ist die phonetische Fehlleistung hinsichtlich des Marmorkuchens ein Ausdruck kindlichen Verbundenseins und ein Liebesbeweis, der vielen vertraut sein dürfte. Beim Erinnern verwandelt sich der Erwachsene in das Kind von einst. Der Zurückbleibende vermisst die Palatschinken der Mutter, die er als „Ein anderes süßes Wort / Für Mama“ versteht. Da reicht es nicht, in das nächste Restaurant zu gehen, um welche zu bestellen.

Es ist eine Dingwelt, die eng mit familiärer Geborgenheit verknüpft ist. Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn im Gedicht „Erbschaft“ das Bekenntnis formuliert wird, dass das Kind die Erinnerungen der Mutter in seine eigenen aufnimmt.

Die Anwesenheit der Abwesenden

Die manchmal lapidaren Beobachtungen helfen, die Schwere des Themas auszuhalten. Es ist zwar eine allgemeine Wahrnehmung, dass mit den Menschen auch deren Möbel und persönliche Kostbarkeiten aus den Häusern verschwinden, weil diese früher oder später verkauft oder verschenkt werden. Doch diese Beobachtung findet in einer verdichteten Form im Gedicht „Zeichen an der Wand“ ihren eigenen Ausdruck:

Im Schlafzimmer der Eltern hängen
In Schattenrahmen
An Löchern ohne Nagel
Bilder ohne Bilder an der leeren Wand

Die Bilder sind in aller Regel konkret und aus einem Motiv-Bereich geschöpft, sie sind nicht verwoben mit anderen Bezügen, sondern fokussieren auf eine bestimmte Leseweise. Eine anregende Ausnahme ist das Gedicht „Todesanzeige“. Hier vermengen sich Motive aus verschiedenen Bereichen und erhöhen so die poetische Spannung, auch leisten sie eine Einladung, vorgefertigte Interpretationen zu meiden, um eigene Bilder zu schaffen.

See Also

Letzte Schwimmzüge im September
Erste Herbstblätter auf dem See
Die Spitzen aufgedreht
Wie der Bug von Wikingerschiffen
Zur selben Zeit (was er nicht weiß)
Die letzten Atemzüge seines Schwiegervaters
Duchs gekippte Fenster im Sterbezimmer
Dieselbe Nachsommerluft
Die die leichte Flotte auf den See
Hinaustreibt

Es ist ein wiederkehrendes Merkmal der dramatisierenden Verdichtung, wenn der Gegensatz von Vitalität und Sterben anschaulich wird. In diesem Gedicht nimmt aber das Bild des auf die See Treibens auch den Verstorbenen auf. Denn es war Praxis, dass Wikinger ihre Toten in Steingräbern mit Bootsform bestatteten. Oder sie wählten gleich ein Boot als Sarg. Die offene See markiert zudem den Übergang vom Leben zum Tod, und das Element des Wassers steht in so vielen Kulturen – ungeprüft möchte ich behaupten, in allen – für beides. Der Bug des Wikingerschiffs ist damit nicht nur eine visuelle Assoziation, sondern auch eine mythologische.

Die visuelle Erscheinung des Gedichts

Solcherart konditioniert auf Motive des Sterbens, erscheinen die Gedichte in ihrer zentriert layoutierten Form mehr und mehr wie Gefäße, die ein Stück Leben in sich tragen. Sind es Urnen, die Ramnek hier versammelt? Auf jeden Fall rückt die Aussage in den Mittelpunkt, das Gedicht nähert sich der Identität eines Psalms und kann als Gebet oder Abschiedszeremonie verstanden werden. In seinem titelgebenden Gedicht „21. Dezember“ fallen faktische wie symbolische Aussage zusammen:

Nach dem kurzen Tag
Stirbt der Vater
In die längste Nacht

Es ist dieses Echo, das viele Gedichte auslösen. Ein ungewöhnliches stilles Echo. Wenn der Mutter attestiert wird, dass sie in der allergrößten Stille daliegt ohne Hörgerät, dann zeigt sich die Nacktheit des Menschen noch einmal anders. Befreit von den Prothesen kehrt der Mensch in seine Unvollkommenheit zurück, doch sie wird nicht mehr als Makel wahrgenommen.

Diese „Flüchtigkeiten“ erzählen viel. Der Band ist gut konzipiert. Allerdings ist er wirklich schmal geraten, denn Zwischentitel und Trennseiten sorgen dafür, dass einige nicht oder kaum bedruckte Seiten zu finden sind. Das ist schade, denn dieser eigene Todesartenzyklus, der natürlich ganz anders geraten ist als jener von Ingeborg Bachmann, die übrigens wie Hugo Ramnek in Klagenfurt das Weltenspiel begann, hätte ruhig ein paar Gedichte mehr aufnehmen können. Zumal auch der Preis für diesen poetischen Grabstein – insbesondere wenn ich an die bibliophilen Schätze der Reihe „Europa erlesen“ denke, die allesamt 15 Euro kosten – überhöht ist.


Hugo Ramnek: Die längste Nacht. Elegische Flüchtigkeiten. Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec, 2022. 95 Seiten. Euro 21,–

Scroll To Top