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Der eigene Ton und sein Echo

Der eigene Ton und sein Echo

Helwig Brunner: Axel Helbig hört im Gesprächsband Der eigene Ton 3 den Dichter*innen zu und lässt das Gehörte für uns nachklingen


Mit Dresden verbinden mich wechselvolle Erinnerungen. Zweimal habe ich dort, nominiert zum Dresdner Lyrikpreis, vor Publikum und Jury gelesen, und zweimal bin ich, was den Preis betrifft, mit leeren Händen wieder nach Hause gefahren – aber jedes Mal bereichert durch den Austausch mit Dichterinnen und Dichtern und durch das unvergleichliche Erlebnis, das sich einstellt, wenn Lyrik auf hohem Niveau stattfindet. Und dann gibt es da noch eine besondere Erinnerung: jene an Axel Helbig, den langjährigen Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift Ostragehege, dem man als Dichterin oder Dichter stets gerne Verse anvertraut. Mit ihm habe ich in Dresden gut geplaudert und, im Ambiente eines Ritterkellers, ebenso gut gegessen.

Das erwähnte Vertrauen hat einen Grund: Axel Helbig ist Leser, ein begnadeter, beherzter, wahrscheinlich ein wenig besessener Leser; er ist, wenn der folgende Superlativ zulässig ist, vermutlich der lesendste Mensch, den ich kenne. Er ist Zuhörer, der seit vielen Jahren Gespräche mit dichtenden und Kunst schaffenden Menschen führt und diese Interviews nicht nur in der genannten Zeitschrift, sondern immer wieder auch in Buchform einem interessierten Publikum zugänglich macht. Und er ist auch Anstifter, der mit der Ostragehege-Rubrik »Lagebesprechung – Junge deutschsprachige Lyrik« seit vielen Jahren eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren (so auch mich) dazu veranlasst hat, sich auf das Denken und Schreiben nachrückender Dichtergenerationen einzulassen und deren Arbeit, ähnlich wie er selbst es unermüdlich tut, respektvoll und wertschätzend zu präsentieren. All dies macht ihn in Sachen Lyrikrezeption nicht nur zu einem Kenner, sondern auch zu einer Vertrauensperson ersten Ranges.

Der Band Der eigene Ton 3 versammelt, wie schon die beiden Vorgängerbände, Gespräche mit Schreibenden. Neunzehn Gespräche sind es konkret, die Helbig für diesen Band mit bekannten und weniger bekannten Dichterpersönlichkeiten geführt hat. Das Buch ist über 300 Seiten stark, das Druckbild mit kleiner Schrift und engen Zeilenabständen sehr dicht – die erste Lektüre meines in die Jahre kommenden Leserdaseins, für die ich unabdingbar eine Lesebrille benötige. Diese gleichsam physische Wucht hat mich, ich gestehe es, anfangs abgeschreckt, als das Buch, verbunden mit einer kollegialen Anfrage um mögliche Rezension, im April auf meinem Schreibtisch landete; neben meinen brotberuflichen Angelegenheiten und meinem eigenen Schreiben – mein Roman „Flirren“ befand sich gerade in der heiklen Phase seiner Fertigstellung – konnte und wollte ich mich auf eine solche Materialdichte einige Monate lang nicht recht einlassen.

Jetzt aber, da ich diese Zeilen zu schreiben beginne, bietet sich der Sommer für Lektüren wie diese an, und ich nehme Helbigs Interviewband neugierig zur Hand, um, wie ich es gerne tue, in einer Art Wechselspiel lesend zu schreiben und schreibend zu lesen.

Foto © Helwig Brunner

Zunächst sichte ich die Liste von Helbigs Gesprächspartnerinnen und -partnern. Es sind Größen wie Marcel Beyer, Ann Cotten, Ulrike Draesner, Kurt Drawert, Uwe Kolbe und Raoul Schrott darunter – manche davon nicht zum ersten Mal, sondern mit neuerlichen Gesprächen, die sich als Fortsetzung der Bände 1 und 2 lesen lassen –, aber auch seltener gehörte Namen wie Francesco Micieli oder Uwe Nösner, deren durchaus beträchtliche Bibliografien mich überraschen und mir meine Unbelesenheit vor Augen führen. Fragen tauchen in mir auf: Kann ich aus dem mir vertrauten oder unvertrauten Klang eines Namens tatsächlich auf dessen objektiven Bekanntheitsgrad schließen? Und ist Bekanntheit eine relevante Größe, die verlässlich mit Qualität korreliert? Beides möchte ich nach kurzem Nachdenken doch eher verneinen. Wer mir gut oder weniger gut bekannt ist, ist vielfach lediglich biografisch, ja anekdotisch bedingt. Und auch objektive Bekanntheit verdankt sich, wie sich immer wieder beobachten lässt, nicht allein der Qualität des Werks, sondern teilweise auch der Verkettung glücklicher Umstände, zur richtigen Zeit an die richtige Verlagstür geklopft zu haben oder von den richtigen Leuten wirksam ins Rampenlicht gerückt worden zu sein.

Als Beleg für das Anekdotische flackern neuerlich Erinnerungen auf: Uwe Kolbe etwa bin ich 2008 begegnet und sehe ihn noch vor mir, wie er sich damals mit seiner großgewachsenen Gestalt und seinen markanten Gesichtszügen auf einer Festivalbühne im nicaraguanischen Granada Geltung zu verschaffen wusste; sein Band „Vineta“, noch im alten Jahrtausend bei Suhrkamp erschienen, hatte mich offensichtlich beeindruckt, denn der Titel ist mir sofort präsent, als ich den Namen Kolbe in Helbigs Interviewliste lese. Kurt Drawert zog vor ähnlich vielen Jahren als Juror in einer Finalrunde des Leonce-und-Lena-Wettbewerbs in Darmstadt ordentlich über meine Gedichte her, was damals die Jury polarisierte und mich ein wenig verstörte, mich aber im heutigen Rückblick nicht mehr wundert. Raoul Schrott wiederum hat mich seinerzeit, es muss etwa 1996 und er somit erst Anfang dreißig gewesen sein, mit seiner Grazer Poetikvorlesung und seiner kühnen Parallelführung quantenphysikalischer und poetischer Denkweisen beeindruckt; viel später hat er für meinen Gedichtband „Süßwasser weinen“ ein schönes Nachwort geschrieben. Ann Cotten schließlich habe ich erst unlängst wieder bei einer Präsentation der Zeitschrift „manuskripte“ im Grazer forum stadtpark auf ihre unnachahmlich sprudelnde, sagen wir: intelligenzgeboostete Art lesen gehört. Lauter persönlich gefärbte Erinnerungen sind es also, die mir, da ich Helbigs Buch in der Hand halte, in den Sinn kommen. Ich darf das, sage ich mir, ich bin kein der wissenschaftlichen Objektivität verpflichteter Germanist; ich darf in Erinnerungen schwelgen, so wie mir auch das eigene literarische Schreiben eine höchst persönliche Angelegenheit ist. Das wissenschaftliche Schreiben ist freilich eine andere Sache.

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Dann aber greife ich eines der von Helbig geführten Gespräche heraus, und zwar jenes mit Uwe Kolbe, um mir ein Bild von Helbigs Herangehensweise zu machen, sowohl von seiner Gesprächsführung als auch von der begleitenden Informationsaufbereitung. Ein Vorspann vor dem eigentlichen Interview stellt Kolbe als seinerzeit höchst widerständige, folglich bespitzelte und letztlich in den Westen ausgereiste Leitfigur der jungen DDR-Literatur vor und beschreibt, wie er mit der scheinkritischen, scheinrebellischen Haltung der großen DDR-Kohorte der Brechtschüler hart ins Gericht geht. Die ausführliche Kurzbiografie am Ende des Bandes nennt unter anderem einige Auslandsaufenthalte Kolbes bereits zu DDR-Zeiten, unter anderem ab 1986 mehrmals als Stipendiat in Amsterdam (wo ich, wie es der Zufall will, selbst eben erst einige Tage verbracht habe); mit Interesse nehme ich, der ich in Sachen DDR-Geschichte beschämend ahnungslos bin, zur Kenntnis, was ich bislang nicht wusste, nämlich dass solche Reisen in den Westen damals überhaupt möglich waren, und stelle mir vor, welch enormer gesellschaftlicher und politischer Kontrast in der weltoffenen, ungezwungenen Atmosphäre Amsterdams auf den damals noch nicht dreißigjährigen Kolbe eingewirkt haben muss. Das Gespräch selbst widmet sich auf über zwanzig Seiten detailliert und eingehend den drei zum Zeitpunkt des Gesprächs (2017) neuesten Büchern Kolbes, darunter der damals gerade vor dem Erscheinen stehende Gedichtband Psalmen (S. Fischer), mit dem sich Uwe Kolbe als die Religion suchender, wenn auch, laut Interview, konfessionslos bleibender Dichter erweist – was ich, vielleicht wegen seiner realpolitisch geprägten dichterischen Herkunft, kaum erwartet hätte. „Das Gedicht ist ein Rufen auf etwas anderes hin“, sagt Kolbe und weckt damit in mir Erinnerungen an ähnliche Aussagen anderer Dichter von Adalbert Stifter („Die Kunst ist die irdische Schwester der Religion“) bis Michael Hamburger („Gedichte wollen und sollen in das sonst nicht Sagbare eindringen“) – die beiden letzteren Zitate schreibe ich hier aus dem Gedächtnis und somit ohne Garantie für ihre Korrektheit nieder. Überhaupt ist es oft das (für mich) Unerwartete, das sich in diesem Interview auftut, das hinter den Verszeilen Stehende oder ihnen Zugrundeliegende. Denn Helbig versteht es in der Tat, Kolbe klare und vielfältige Bekenntnisse grundlegender Art zu entlocken: Bekenntnisse zur Ernsthaftigkeit gegen das weit verbreitete Gelabere, zur Ehrfurcht vor der Natur und ihren Namen, zum Wissen als Fundament qualifizierten Schreibens: „Ich fordere ja das Wissen“, so Kolbe, „man soll wissen, worüber man spricht.“ So zeichnet auch dieses Interview ein großer Ernst aus, ein beharrlicher und in jeder Zeile glaubwürdiger Tiefgang weit weg vom selbstgefälligen Geplänkel mancher Literatur- und Kunstgespräche. Dieser Tiefgang ist es wohl, aus dem sich der eigene Ton, Axel Helbigs schier unerschöpflicher Untersuchungsgegenstand, letztlich immer wieder speist.

Ziemlich beeindruckt und ein wenig nachdenklich lege ich den Band beiseite und schreibe diesen Lektürebericht zu Ende. Ein Leben reicht längst nicht aus, um ein Gutteil des Lesenswerten zu lesen, schon gar nicht, wenn man wie ich einem literaturfernen Brotberuf nachgeht und diesen aus guten Gründen auch nicht missen möchte. Ein Leben reicht nicht aus, um mit den vielen faszinierenden Persönlichkeiten ins Gespräch zu kommen und im Gespräch zu bleiben, die (neben so manchen Blenderinnen und Bluffern) zum Glück im deutschsprachigen Literaturbetrieb beheimatet sind. Axel Helbig hat für uns mit viel Zeit, Wertschätzung und Hingabe, mit unermüdlicher Liebe zum Detail wie auch zum großen Ganzen, solche Gespräche geführt und uns so die vielfältigen Innenwelten zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur, mit besonderem Augenmerk für die Lyrik, ein gutes Stück weit erschlossen. Er hat damit wertvolle Dokumente geschaffen, auf die, davon bin ich überzeugt, gerade auch in späteren Jahren, wenn die Gelegenheit zum persönlichen Gespräch unwiederbringlich verstrichen ist, noch oft und gerne zurückgegriffen werden wird.


Axel Helbig: Der eigene Ton 3. Gespräche mit Dichtern. Leipzig: Leipziger Literaturverlag 2023.

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