Now Reading
Im Reich der verliebten Katzen

Im Reich der verliebten Katzen

Lukas Meschik liest Haiku. Japanische Dreizeiler


Es kommt nur noch selten vor, dass ich einfach so in eine Buchhandlung spaziere, ein bisschen schmökere und ein Buch mitnehme, von dessen Existenz ich vorher gar nichts wusste, meistens weiß ich sehr genau, wonach ich suche, steht die nächste Lektüre schon fest. Als ich aber an einem verregneten Junitag Berlin erkundete (genauer gesagt die Gegend rund um die S-Bahn-Station Friedenau im Bezirk Tempelhof-Schöneberg), da passierte genau das: Ich betrat auf gut Glück einen Buchladen mit ansprechendem Schaufenster, studierte das Lyrik-Regal und fand eine Haiku-Sammlung, die ich sofort haben musste. Wahrscheinlich nährte die Kirschblüten-Illustration am Cover eine unergründliche Japan-Sehnsucht. Wir können uns bekanntlich selbst kein schöneres Alltagsgeschenk machen als uns mit einem Buch zu überraschen. Schon im Weitergehen begann ich zu lesen.

Als ich hinaustrat,
Berührte mich allein nur
Der Mond des Frühlings.
Teijo

Weil es wieder zu regnen begann und es sich im Sitzen ja doch besser liest, schlug ich an einem Kaffeehaustisch im Freien mein Leselager auf. Über meinem Kopf prasselte es ausgelassen auf die Markise, vor mir ragte der imposante Turm des Friedenauer Rathauses auf – alles schrecklich romantisch.

In den letzten Jahr bin ich – jedenfalls beim Dichten – ein immer größerer Fan der kurzen Form geworden, was sich auch im Sammeln eigener freier Dreizeiler niedergeschlagen hat. An richtigen Haiku habe ich mich nur selten versucht, und diese 1998 im Reclam Verlag herausgebrachte (2023 wiederaufgelegte), von Jan Ulenbrook ausgewählte und übersetzte Sammlung japanischer Dreizeiler zeigt auch, warum – weil bei einem richtigen Haiku eben mehr dazugehört als das bloße Abzählen der korrekten Silbenzahl.

Foto © Lukas Meschik

Ich hatte davor wohl einfach zu viel Respekt, wusste insgeheim, was ich alles nicht wusste. Mit dem berühmten 5-7-5-Muster werden die meisten vertraut sein, doch die inhaltliche Ebene hat sich mir persönlich wohl erst durch diesen Gedichtband endgültig erschlossen. Im hervorragenden, nicht minder kompakten Nachwort wird die Magie des Haiku auf den Punkt gebracht – im vorangehenden Gedichtteil von abgezählten 92 Meisterinnen und Meistern (die meisten bereits verstorben) erhaben durchexerziert. Vom unwidersprochenen Haiku-King Bashô gibt es mehrere Beispiele, von den meisten anderen nur ein oder zwei.

Die Einsamkeit, ach,
Veranlasst von der Blüte
Des Lebensbaumes.

Als ich so unter meiner Berliner Markise am Kaffee nippte und auf die große Erleuchtung wartete wie ein Aushilfs-Buddha, hatte ich tatsächlich eine kleine Haiku-Erleuchtung – ich ließ also nicht nur die Gedichte auf mich wirken und war in der Lage, das Handwerkliche daran intellektuell nachzuvollziehen, ich hatte für ein paar aufblitzende Momente wirklich das Gefühl, das Gelesene zu verstehen.

Ein Haiku bezeugt das Vergehen der Zeit, weshalb oft Naturphänome beschrieben werden, die klar eine bestimmte Jahreszeit markieren – daran meinte ich mich aus früherer Beschäftigung mit dieser Form bereits zu erinnern. (Der Band ist sehr glücklich von Neujahr ausgehend in Jahreszeiten-Kapitel aufgeteilt.) Was mir aber nie so recht einleuchtete – vielleicht weil ich es nicht wahrhaben wollte? –, ist der wichtigste Aspekt dieser Gedichtform: Ein Haiku wertet nicht. Was auf den ersten Blick banal wirkt, stellt sich auf den zweiten als Revolution im Denken des Lyrikers heraus. Wenn ich so meine eigenen Gedichte durchschaue, muss ich mir die schmerzhafte Frage stellen: Wo habe ich es lassen können, darin etwas oder jemanden zu bewerten? Einen Körper, eine Oberfläche, eine Stadt, eine Vergangenheit, ein Ereignis. Überhaupt dieses ganze Herumgefühle! Der Haiku – der echte, richtige, wahrhaftige Haiku – macht einen Schritt zur Seite, nimmt sich zurück und beschreibt.

Verliebte Katzen
Sich dort im Schnee anspringen
Auf dunklem Felde.
Takako

Mit zunehmender Lektüre machte sich in mir große Erleichterung breit. Wir müssen nicht zu allem immer etwas fühlen und meinen, es gibt Dinge, die dürfen einfach nur sein. Plötzlich wurde mir bewusst, wie selten ich mir das sogar beim Dichten erlaube. Ist es zu schwierig? Also, leicht ist es jedenfalls nicht, und faul darf man dabei auch nicht sein. Vor allem kann man das reine Beschreiben nicht erzwingen, höchstens begünstigen. Das ins Gedichtkorsett gegossene Bild ist nicht nur eine Frage des Blicks darauf, die Haiku-Tauglichkeit eines Vorgangs oder einer Konstellation ist nur dort gegeben, wo Wertung nicht naheliegend ist – Szenen zwischen Menschen scheiden damit weitgehend aus; nicht umsonst wird gern auf die unverstellte Natur und Tierverhalten zurückgegriffen. Beide stellen nichts bewusst dar und geben nichts vor, sie zeigen sich nicht auf eine bestimmte Art, sondern verhalten sich einfach. Was mir im Weiterlesen übrigens auffiel, war das wiederkehrende Element der verliebten Katzen. Selbst habe ich noch nie welche gesehen, aber seither halte ich tapfer nach ihnen Ausschau.

See Also

Auf beiden Seiten
Der Schnurrbart noch gewachsen
Verliebten Katzen!
Buson

Es klarte auf, der Regen hatte aufgehört und der Kaffee war ausgetrunken. Mit meiner Lektüre war ich noch nicht ganz fertig, ich würde sie später im Wartebereich des Flughafens fortsetzen. Der restliche Tag verging in heiterem Ernst.

Das Buch hat in mir eine Dichtlust neu belebt, und seit meinem Ausflug versuche ich mich hin und wieder an dem einen oder anderen Haiku. Was die typische Auseinandersetzung mit der Natur angeht, nehme ich es nicht ganz so genau, als bekennendes Stadtkind fehlt mir da oft der Zugang, aber ich bemühe mich sehr, nicht zu werten. Ich versuche nur spielerisch einzufangen, was als Dreizeiler so in der Welt ausgestreut ist. Bashô wird aus mir keiner mehr werden, aber das stört mich nicht, mich hat der Haiku-Hype voll gepackt.

Sprenkleranlage
Am Berliner Flughafen
Wartet auf den Brand
*
Schlafende Riesen
Flugzeuge tanken am Feld
Sie werden fliegen
*
Die Glatthaarige
Trägt blind lächelnd Lippgloss auf
Bereit für den Kuss
*
Klapptisch aus Plastik
Donauwalzer kreist an Bord
Gleich heben wir ab
*
Die Farbe lautet
Schokoladentalerrot
Ein Kind freut sich wach
*
Achterbahn im Bauch
Schrägblick auf ein Routennest
Berlin wird ganz klein
*
Zahme Giganten
Einzeln grasend Kraft aus Luft
Die Windradherde

Haiku. Japanische Dreizeiler. Ausgewählt und aus dem Urtext übersetzt von Jan Ulenbrook, Reclam Taschenbuch Nr. 20721, 1998, 2023

Scroll To Top