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ZEIGEN OHNE ZU WEISEN

ZEIGEN OHNE ZU WEISEN

Herbert J. Wimmer liest diesen Sommer Gerhard Rühm


zwischen allem, was diesen zwanzigdreiundzwanziger sommer bisher mich umgibt und meine aufmerksamkeit fordert, liegen zwei safrangelbe dicke grosse bücher, die ich nur aufzuschlagen brauche und schon bin ich in einem anderen zustand, in einem anderen sprachzustand, in den ich seit vielen jahrzehnten glücklich kippen kann, hinein und heraus, hinüber und herüber, KUNST AUS SPRACHE, zum beispiel von gerhard rühm.

zwischen allem, was diesen zwanzigdreiundzwanziger sommer bisher mich umgibt und meine aufmerksamkeit fordert, liegen zwei safrangelbe dicke grosse bücher, die ich nur aufzuschlagen brauche und schon bin ich in einem anderen zustand, in einem anderen sprachzustand, in den ich seit vielen jahrzehnten glücklich kippen kann, hinein und heraus, hinüber und herüber, KUNST AUS SPRACHE, zum beispiel von gerhard rühm.

ich gehe durch mein arbeitszimmer und lese mir laut vor: „geschlechterdings – eine orgie // der anzug scheuert die schürze / der apfel beisst in die birne (…) der raum ergiesst sich in die zeit (…)“

blättere zu den dialektgedichten, mitten hinein ins autobiolektürliche, ins lieblingsdichte:

Foto © Herbert J. Wimmer

do bin i
do bleib i
do brunz i
do schbeib i
do ge i im gras
weul I sunsd ma nix was.

wider und wieder und immer wider den sogenannten „guten geschmack“, so makaber wie möglich, voll schwarzen humors, mit dem tief-trockenen witz der surrealisten, erfrischend, erheiternd, nicht nur aber besonders in den chansons. schon höre ich in meiner erinnerung wie sich stimmen überlagern, gerhard rühm am klavier und die aufnahme von georgette dee & terry truck:

See Also

ich küsse heiss den warmen sitz
da wo du breit gesessen bist
und küsse heiss den warmen sitz
damit mein mund dich nie vergisst (…)

gute organisationsmöglichkeiten für literarische texte finden sich einerseits im ernsthaften (sprach-)spiel mit traditionellen formen und andererseits im gebrauch von allgemeineren ordnungssystemen, wie zahlenreihen oder alfabeten. sonette zum beispiel, sonettformen beschäftigen rühm von anfang an, und aus den möglichkeiten der alfabetischen strukturierungen von kunstvoll verarbeiteten textmassen hat er über jahrzehnte hinweg grossartige und mich andauernd anregende dichtungen geschaffen. schon stosse ich auf „die lange nacht“, ein sonett, das sich per negation als „schlafsonett“ bezeichnet und sowohl vom zählen (bis zum einschlafen) wie auch vom alfabet als methode erzählt. im gegensatz zur unendlichkeit der zahlen ist das alfabet ja begrenzt, kann aber unendlich repetiert und permutiert werden. schlaflos fühle ich auch in den kurzen sommernächten die quälende unruhe des zeitnichtvergehens.

schlaflos wälzt man sich im bett, 
zählt man auch von a bis zett. 
schlaflos wälzt man sich im bett. 
die lange nacht, sie ist nicht nett.

(…) 

die lange nacht, sie ist ein gfrett. 
und ich wette, ja, ich wett:
das ist auch kein schlafsonett!

und plötzlich ein gedicht, das ich im augenblick des lesens als produktionsmaxime und kompositionsmethode verstehe, eingeschrieben einem spirituellen moment, der alles gibt und nichts fordert, ein satori, der auch mein erkenntnismoment werden kann, wenn all die glücklichen lockerungen mich weiterlockern:

buddha
 
du sorgst dich nicht um dich
und nicht um mich
du versprichst nichts
und erwartest nichts 

du bist einfach da 
schweigst 
strahlst 
und zeigst ohne zu weisen.

Gerhard Rühm: Gesammelte Werke. Gedichte, Band 1.1 und Band 1.2. Herausgegeben von Michael Fisch, Parthas Verlag Berlin, 2005, 1279 Seiten.

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