Klaus Ebner liest Marta Pérez i Sierras Punta de plom
Gleich mal vorweg: Nein, dieses Buch gibt es (noch) nicht auf Deutsch! Meine Affinität zu romanischen Sprachen lässt mich vieles im Original lesen, und bedauerlicherweise wurden zahlreiche Bücher nie ins Deutsche übersetzt, insbesondere, wenn es sich dabei um Lyrik handelt.
Meine Sommerlektüre ist eine katalanische, und es ist eine der jüngeren Publikationen von Marta Pérez i Sierra, die es mir angetan hat. Punta de plom heißt wörtlich übersetzt „Spitze aus Blei“ oder „Blei-Spitze“. Die leise Assoziation, die wir dabei im Deutschen mit dem Bleistift haben, funktioniert auch im Katalanischen, denn das Wort für Blei, „plom“, erinnert an „ploma“, und das wiederum steht für eine Feder oder eben Schreibfeder.
Foto © Klaus Ebner
Der Titel spielt indessen auf einen antiken Mythos an, der sich in den Überschriften des dreiteilig strukturierten Buches fortsetzt: Chimära, Bellerophon und Pegasos. In der griechischen Mythologie war Chimära laut Homer ein feuerspeiendes Mischwesen aus Löwenkopf, Ziegenleib und Schlangenschwanz, das Mensch und Tier in Lykien bedrohte, wo, so die heutige wissenschaftliche Erklärung, Gase aus dem steinigen Boden austreten und sich beizeiten entzünden. Der Mythos erzählt, wie Bellerophon vom König beauftragt wurde, das Untier zu töten. Meeresgott Poseidon gab ihm das geflügelte Pferd Pegasos zur Hilfe, und so bekämpfte Bellerophon die Chimära von der Luft aus. Das Ungeheuer besiegte er mit einer Lanze, an deren Spitze sich ein Bleiklumpen – die Spitze aus Blei – befand. Er bugsierte diese in den Rachen der Chimära, wo das Blei im Feuer schmolz und zum Erstickungstod führte. Als Belohnung erhielt Bellerophon die Königstochter zur Frau, und so war er gleichzeitig Gewalttäter und Liebender, eine Kombination, die in diesem Gedichtband durchaus eine Rolle spielt.
Bei Hesiod hat die Chimäre drei Köpfe der genannten Tiere, was die Autorin in einen Zusammenhang mit Sprache und Schweigen setzt:
Eren tres, una de cada cap, les llengües. Parlaven alhora sense dir res. (…) Drei Zungen waren’s, jedem Haupt die seine. gemeinsam sprachen sie und sagten doch nichts. (…)
Ich lernte Marta Pérez i Sierra vor nahezu zwei Jahrzehnten als Verlagskollegin kennen und verfolge seither mit großem Respekt ihren literarischen Aufstieg. Sie schreibt in erster Linie katalanische Lyrik, veröffentlichte aber auch Prosa für Kinder auf Spanisch. In den letzten Jahren häuften sich die Literaturpreise, und so wurde auch Punta de plom mit dem Premi Ciutat de Terrassa Augustí Bartra ausgezeichnet. Marta wurde 1957 in Barcelona geboren und studierte katalanische Philologie. Während die Kinder längst erwachsen sind, lebt sie mit ihrem Mann in der katalanischen Hauptstadt, der sie meines Wissens zu allen Lesungen und Preisverleihungen begleitet. Ihre Gedichte kreisen thematisch um Frauen, Liebe und Beziehungen, doch bevorzugt sie Vielschichtiges, was ihren Texten eine gewisse Komplexität verleiht. Den ersten Literaturpreis, den renommierten Premi Jordi Pàmias erhielt sie 2010 für den Gedichtband Dones d’heura, auf Deutsch Efeu-Frauen. Schon damals überraschten mich starke, eindrucksvolle Bilder, für die man Zeit braucht, um sie wirken zu lassen, ebenso wie erstaunlich offene und freizügige Einblicke in die weibliche Gefühlswelt und Sexualität. Zudem fiel mir auf, dass auch traditionelle Symbolik, die sich quer durch unsere gesamte Literaturgeschichte zieht, in den Gedichten von Belang ist.
Die Praxis der katalanischen Literaturpreise möchte ich erläutern: In den Katalanischen Ländern ist es üblich, dass bei Literaturpreisausschreiben stets ein komplettes und fertiges Buchmanuskript eingereicht werden muss. Das gilt für Romane oder Erzählungen ebenso wie für Lyrik. Ein solches Verfahren hebt einerseits die Antrittsschwelle und sorgt andererseits für eine gewisse Garantie, dass die Einreichenden es mit ihrem Schreiben wirklich ernst meinen. Das Beste daran ist aber, dass die Sieger*innen ihr Buch danach veröffentlicht bekommen, und zwar in der Regel in einem anerkannten Verlag!
Hinsichtlich der Lyrik ist festzustellen, dass in den Katalanischen Ländern deutlich mehr Lyrik (vielleicht nicht geschrieben, aber:) veröffentlicht wird als bei uns. Das bedeutet freilich nicht automatisch, dass Katalan*innen mehr Bücher läsen als Österreicher*innen oder Deutsche, doch konnte ich häufig beobachten, dass die Lyrik in der Gesellschaft einen viel höheren Stellenwert genießt. Zu diesem Bild passt gut, dass die katalanischen Verlage den Mut haben – ja, ich sage: Mut! –, auch sehr dünne Bücher mit Gedichten herauszubringen und zu vermarkten. Ich habe in Katalonien Lyrikbände gesehen (und gekauft), die kaum mehr als dreißig oder vierzig Seiten haben!
Leider musste ich auch einmal zur Kenntnis nehmen, dass dies nicht für alle erstrebenswert ist. Unvergessen der Ausruf eines Bekannten, der da sinngemäß meinte: „Was? Fünfzehn Euro für die paar Seiten? Da bekomme ich doch nichts für mein Geld …“ Ich glaube nicht, dass ich auf den Mund gefallen bin, aber solche Aussagen lassen mich sprachlos zurück.
Peixos minúsculs entre les dents. Així, no puc besar-te. Que se m’enreden en la llengua. Que copulen amb la sintaxi. Que baixen per la gola i ploren l’origen del mal a crits. Winzige Fische zwischen den Zähnen. So kann ich dich nicht küssen. Die verheddern sich in meiner Zunge. Die kopulieren mit der Syntax. Die rutschen den Schlund hinab und beklagen weinend den Ursprung des Übels.
Gleichsam aufrüttelnder Ausgangspunkt von Punta de plom ist der Selbstmord einer Frau. Das hat nun gar nichts mit dem Chimära-Mythos zu tun, doch zieht die Autorin Parallelen auf der syntaktischen ebenso wie auf der semantischen Ebene. Der bereits im ersten Gedicht „Indòmita/Ungezähmte“ angesprochene Suizid erfolgt mit Gas: Das Fenster ist geöffnet, Bellerophon erscheint auf Pegasos; er findet geschriebene Abschiedsworte, ein nicht gemachtes Bett, die Verzweiflung einer zerbrochenen Liebe; der Gashahn wird geöffnet.
Eine Verquickung mythischer Anspielungen mit der Geschichte einer vergangenen Liebe, die hier erzählt wird. Bellerophon tritt als möglicher Mörder auf, doch letzten Endes ist Chimära eine Schimäre. Die Vergängnis der Liebe, Leidenschaft und Alltag, Misshandlungen und das nagende Gefühl, aus ihrem Leben das Falsche gemacht zu haben. Reden und verstummen, die gemeinsame Sprache und die Sprache der Vergängnis. Dem antiken Ungeheuer wurde im wahrsten Sinne des Wortes „das Maul gestopft“; mancher Frau (und im Übrigen auch manchem Mann …) verschlägt es im Laufe ihrer Beziehung die Sprache, und in einzelnen Fällen kommt es dann zur Katastrophe – zum Ausgangspunkt dieses Gedichtbandes.
Trotz einer solch brutalen Konstellation enthält das Buch eine Vielzahl wunderschöner Verse und Bilder. Anspielungen auf das Meer, wie sie bei katalanischen und natürlich auch griechischen Dichter*innen generell häufig vorkommen, und auf Blumen. Letztere ziehen sich wie ein roter Faden durch Martas Bücher: Tulpe, Magnolie, Hortensie, Löwenmaul, Primel, Tuberose, Ringelblume, Efeu und diverse Obstbäume. Damit referenziert sie Düfte und Farben, denn ihre lyrischen Bilder sprechen alle Sinne an. Und natürlich darf die Zärtlichkeit der schönen Erlebnisse nicht fehlen:
A vessar de llum de mar, em dictes passions. Ens besàrem per posseir el gest tendre. Während das Meereslicht ausrinnt, gibst du mir Leidenschaft auf. Wir küssten uns, um die zärtliche Regung in Besitz zu nehmen.
In einen Gedichtband wie diesen kann ich mich stundenlang vertiefen. Es ist das Nachspüren der Bedeutungen, das Einsinken in eine lyrische Welt, die unterschiedliche Bedeutungsstränge miteinander verknüpft und vielleicht sogar voreinander verbirgt. Die Verse sprühen vor Farben, Gerüchen, Bildern und Gefühlen. Es ist ein Buch, das mich nicht nur im Sommer begleitet und das ich stets von Neuem zur Hand nehme. Das Gedicht „Heroi/Held“ lautet:
Estimo el que en resta. Tu, pres en els meus llavis com una engruna de sal de tot el blau de mar que eres. Ich liebe, was davon bleibt. Du, zwischen meinen Lippen gefangen wie ein Salzkorn des gesamten Meeresblaus, das du bist.
Ob Martas Gedichte jemals einen deutschsprachigen Verlag finden werden, der sich auf eine Übersetzung einlässt, weiß ich nicht. Für gewöhnlich finden wir relativ wenig katalanische Literatur, die ins Deutsche übertragen wurde. Völlig zu Unrecht, meine ich, denn die Katalanischen Länder blicken nicht nur auf eine überaus reiche Literaturgeschichte zurück, sondern haben auch heute eine Menge interessanter Bücher und sprachgewaltiger Autor*innen zu bieten.
Gedichtbände sollten meines Erachtens im Fall von Übertragungen immer zweisprachig erscheinen. Leser*innen finden dann jeweils auch das Original vor. Manche werden die Ausgangssprache verstehen, andere erkennen in manch unbekannter Fremdsprache durchaus einen gewissen Rhythmus oder verwendete Reime; und jene, die das gar nicht interessiert, können den Originaltext getrost überspringen. Zudem birgt eine zweisprachige Ausgabe für mich den Anreiz zu erforschen, wie Übersetzer*innen den Text ins Deutsche übertrugen, welche Entscheidungen sie trafen, formal ebenso wie inhaltlich. Denn dass Sprachen nie identisch strukturiert sind, ist wohl allen klar. Und genau dieser Umstand macht Lyrikübersetzung so schwierig. In diesem Sinne sind auch meine Übertragungen der hier angegebenen Textbeispiele lediglich eine Variante, dies zu tun.
Cobert de prímules, el cos. Imprecís i vulnerable. Esqueixat en dos com un peix assecat. Em deshabito. Von Primeln bedeckt, der Körper. Unpräzise und verletzlich. In zwei Stücke zerteilt wie getrockneter Fisch. Ich entwöhne mich.
Tja, der Sommer geht zu Ende. Die Verse aus Punta de plom werden mich indes länger begleiten, und ich werde wohl auch Vergleiche anstellen mit den älteren Büchern der Autorin ebenso wie mit jenen, die noch erscheinen werden.
Marta Pérez i Sierra: Punta de plom. Mit einem Vorwort von Isabel M. Ortega Rion. Pagès Editors, Reihe: Biblioteca de la Suda, Lleida (Katalonien/Spanien) 2020. 118 Seiten. Ca. Euro 21,– bei Amazon.de. (Buchhandelspreis in Spanien: Euro 13,–)