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Adesso tu / devi tradurre

Adesso tu / devi tradurre

Mira Magdalena Sickinger liest Milo De Angelis’ Alphabet des Augenblicks


Ich erwarb zwei Exemplare des Sammelbandes im Spätsommer 2013 bei Morawa in der Wollzeile. Ich war gerade nach Wien zurückgekehrt von meinem Erasmusaufenthalt an der Philosophischen Fakultät der Università di Macerata; wo ich Prüfungen über Kants Kritik der Urteilskraft auf Italienisch bei Prof. Giovanola ablegen musste, die mich mit ihrer erhabenen Schönheit und dem Vorwurf einschüchterte, dass ich doch Deutsche sei und in meinen Antworten entsprechend precisa sein sollte. Kein Einwand von meiner Seite zur Richtigstellung meiner Herkunft und dass diese nichts über meine Arbeitsweise aussagen würde; ich verriet auch nicht, dass ich erst in den Marken die italienische Sprache erlernt hatte.

Für die Zeit der Prüfungsvorbereitung in den Sommermonaten Juni, Juli hatte ich ein Zimmer in Civitanova am Meer gemietet. Ich begann meine Tage mit Schwimmtraining und erschöpftem Frühstück: Cola, Mozzarella. Danach versuchte ich in meinem fensterlosen Zimmer zu lesen; las neben Kant Patti Smiths Just Kids, auf dessen Schmutztitel ich die Zeilen: “Sommer 2013/ 10.06. – 17.07. By the sea where God is everywhere; 29.07. Patti Smith Konzert Macerata Sferisterio; L’amore ti salverà! ” notierte. Das Konzert sollte ich nicht besuchen, am Vortag wurde ich von einem Önologen im Auto zurück nach Österreich gebracht. Er war der tieferliegende Grund für meinen Aufenthalt in Civitanova, elf Jahre älter als ich, ein Weingut im Nachbarort betreuend. Ich glaubte damals in ihm einen Partner gefunden zu haben und wollte dementsprechend gar nicht nach Wien zurückkehren.

Unglücklich in Wien, Mia Martini im Ohr, war ich auf der Suche nach einem Geschenk für ihn und entdeckte De Angelis’ Sammelband ausgestellt unter den Neuerscheinungen in der Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz. Die vermittelnde sprachliche Gegenüberstellung des Bandes berührte mich auf einer symbolischen Ebene; unsere Unterhaltungen erfolgten zumeist in seiner Sprache, die ich mir mit großer Bemühung angeeignet hatte. Meine Bestellung bei Morawa traf wenig später ein. Ein Exemplar behielt ich für mich, das zweite ging per Post nach Italien, im Jahr darauf erhielt ich eine Box mit angesammelten Geschenken und Briefen retour. So auch das Buch, beinahe unberührt. (Ich war nun wieder im Besitz von beiden Exemplaren.) Zehn Jahre nach dem Erscheinen und Kauf, im August 2023, wird der Band zu meiner Sommerlektüre. In der Westbahn, im Stadionbad, im Neuwaldegger Bad, am Schreibtisch, am Esstisch um drei Uhr nachts.

De Angelis (1951, Mailand) hat bedeutsame Übersetzungsarbeit geleistet, Werke von Baudelaire, Blanchot, Drieu La Rochelle, Maeterlinck und Racine, sowie antike Texte von Lukrez, Claudianus und Aischylos ins Italienische übersetzt. De Angelis ist Mitglied der Schule des “Empatismo”, die 2020 im Süden Italiens mit der Absicht gegründet wurde, der Individualisierung des Kunstschaffens entgegenzuwirken.

De Angelis’ Lyrik verweist auf Grenzen des Erfahrbaren, auf Körperlichkeit in der Sexualität, im Sport, auf den Atem, den Schlaf, den Augenblick, die Sehnsucht, den Tod, das Blut, das Wasser, auf Vororte, Fortbewegungsmittel, Kleidungsstücke, Schmuck, Obsessionen. Obsessiv ist auch der Einsatz von Satzzeichen, Beistrichen allen voran. De Angelis’ poetische Sprache ist schlicht, entschieden, reflektiert. Sie weist selbst auf ihre Grenzen hin, die das konzeptuell nicht Fassbare für Momente erahnen lassen.

Der Ton des ersten Zyklus Somiglianze (Guanda, Parma 1976) trifft auf meine Erfahrungen von 2013: italienische Peripherie, Bahnhöfe, Restauranttische, Alkohol, Missverständnisse, Übergriffe, die Hitze der Nachmittagssonne, das Bett/ der Schlaf als rifugio, die Trauer des Einsamen an Sonntagen, Bewegung im Wasser, …

zählte nicht ihr Berührungspunkt, sondern die Schönheit
ihres Gleitens im Wasser, allein so,
allein jetzt, ohne Erklärung.
Es ist grausam,
aber man muß ihr nein sagen ins Gesicht, das
weint und nicht versteht, und liebt,
wie man für Jahrtausende geliebt hat, Versprechen 
auf einer dunklen Terrasse, Zärtlichkeit
zwischen bedrohlichen Blättern.

non contava il loro punto d’incontro, ma la bellezza
del cammino dentro l’acqua: solo così,
solo adesso, non spiegare.
Ed è atroce
ma bisogna dire di no alla sua fronte che
piange e non capisce, e ama
come per millenni si è amato, promettendo
in una terrazza buia, accarezzandosi
tra le foglie minacciose.

aus “Soltanto” in Somiglianze (2013, 24/25)

Im Zyklus Biografia Sommaria (Mondadori, Mailand 1999) werde ich aufmerksam auf interessante metapoetische und metasprachliche Reflexion:

Nichts haben wir gesehen außer dem Verblühen
der Verse und den Tod, stummes Versagen 

Non abbiamo visto niente se non quel vedere
sfioriti i versi e la morte, fallimento muto


aus “Storiografia” in Biografia Sommaria (2013, 68/69)
alles bereitete sich vor
auf das Wort, das älteste,
im Hof versprochen

tutto si stava preparando
alla parola, a quella più antica
promessa nel cortile


aus “Luogo intero”, in Biografia Sommaria (2013, 74/75)

Wiederholt sprechen direkte Reden aus den Texten, wobei nicht klar ist, ob es Zitate sind, Referenzen, oder Aussagen der lyrischen Figuren:

“Leben, bist nicht nur Leben und vermischst dich
mit vielen Wesen, bevor du unser wirst…
(…)”
Lassen wir dieses Sammeln
und das Flehen des Herzschlags. Geben wir
Fakten und Worte genau wieder. Ja, dazu
bin ich imstande. Um drei Uhr morgens
(…)

“Vita, che non sei soltanto vita e ti mescoli
a molti esseri prima di diventare nostra… 
(…)”
Interrompiamo l’antologia
e la sua supplica del batticuore. Riportiamo esattamente
i fatti e le parole. Questo,
questo mi è possibile. Alle tre del mattino 


aus “Cartina muta”, in Biografia Sommaria (2013, 76,78/77,79)

Das lyrische Ich in “Cartina muta”, das die letzten Tage einer Liebesbeziehung durchlebt, Geschenke zurücknehmen, kalte Worte vernehmen muss, versucht sich zu besinnen, das wiederzugeben, wozu es im Stande ist, die Fakten; poetische Ausführungen gelingen nicht, werden unterbrochen, können nicht ausgesagt werden:

See Also

zusammen werden wir jenes Weinen sein,
das ein Gedicht nicht sagen konnte, jetzt siehst du es,
(…)

insieme diverremo quel pianto
che una poesia non ha potuto dire, ora lo vedi
(…)

Die Texte des letzten Zyklus der Sammlung Quell’andarsene nel buio dei cortili (Mondadori, Mailand 2010) sind einstrophig, ohne Titel (als Referenz werden hier die ersten Verse der Texte angeführt), die poetische Form zeigt sich aufgebrochen, fragmentarisch. Grenzerfahrungen erreichen ihren Höhepunkt, deuten zum Unheimlichen:

Manchmal, am Rande der Nacht, schwebt man
und stirbt nicht. Bleibt man in einem einzigen Atemzug,
lange, im nie vollendeten Tag, sieht
die Tür aufgerissen von einem Schrei. Die Hand
verletzte mit fast sanfter Genauigkeit. So
vergeht man vom ersten Blut bis hier,
bis zu den Augenblicken, die wiederkehren, zu verstehen,
und unvollkommen bleiben, befragt.

A volte, sull’orlo della notte, si rimane sospesi
e non si muore. Si rimane dentro un solo respiro,
a lungo, nel giorno mai compiuto, si vede
la porta spalancata da un grido. La mano feriva
con una precisione vicina alla dolcezza. Così
si trascorre dal primo sangue fino a qui,
fino agli attimi che tornano a capire e restano
imperfetti e interrogati.

aus “A volte, sull’orlo della notte”, in 
Quell’andarsene nel buio dei cortili (2013, 118/119)

Die Bedeutung der Sprache wird hier noch bewusster verarbeitet. Inhalte sind markiert als Gesagtes, Sich-Darlegendes, Versprachlichtes, Unausgesprochenes, Unaussprechliches, Unverständliches, Verstummtes, Wahrgenommenes, Unerhörtes, Bedeutungsloses, Bedeutungsvolles. Dabei sprechen die Texte nicht mehr von subjektiv individualistischer Erfahrung, sondern öffnen sich hin zu gemeinschaftlichem Erleben einer größeren Erzählung:

stumm, um einen Mast gedrängt,
wollen von nichts wissen. Und die Welt
wie das Echo eines Satzes,
den sie nicht wiederfinden (…)

muti, si stringono a un palo,
non ne vogliono sapere. E il mondo
sembra un’eco della frase
che non trovano più (…)

aus “Mi attendono nascosti”, in 
Quell’andarsene nel buio dei cortili (2013, 120/121)
Vorstädtisch führte uns der Nachmittag in ein Lied,
der Augenblick wurde Nacktheit
und griechische Wucht des Finales: wir sind die flehenden
verbliebenen Zuhörer (…)

Il pomeriggio ci portò suburbani in un canto,
l’attimo divenne nudità
e potenza greca del finale: siamo i supplici
rimasti ad ascoltare (…)

aus “Vicina all’anima è la linea verticale”, in 
Quell’andarsene nel buio dei cortili (2013, 124/125)

Es ist so. Die Erinnerung
eines Menschen war bloß diese
Handvoll Silben (…)
Worte des Entsetzens, sind ein Schlagen
von Flügeln, ausgespannt und einer dunklen
Ordnung treu. An dir nun,
zu übersetzen.

È così. La memoria
di un uomo era solamente questa
manciata di sillabe (…) 
parole esterrefatte, sono un battere
di ali protese e fedeli
a un ordine oscuro. Adesso tu
devi tradurre.

aus “È così. La memoria”, in 
Quell’andarsene nel buio dei cortili (2013, 142/143)

Nacht und Dunkelheit finden sich in jedem der Texte des Zyklus. In der Folge eine Auswahl entsprechender Zeilen: sull’orlo della notte (am Rande der Nacht); caduti del buio (ins Dunkel gefallen); Era buio. Il centro di agosto era bui (Es war dunkel. Der Kern des Augusts war dunkel); Era/ una frase che, penetrando/ nella ferita più buia, la fa sua (Es war/ ein Satz, der in die dunkelste/ Wunde dringt, sie sich einverleibt); un lungo bacio senza luce, un mutismo (ein langer lichtloser Kuß, eine Stummheit)

Die sommerliche Dunkelheit sagt mir zu, ist mir vertrauter, näher als die sommerliche Leichtigkeit, die Sehnsucht bleibt. Die nostalgische Erinnerung an einen vielleicht nie erfahrenen, nur erträumten Zustand, oder Erinnerungsfetzen nur: einsame Lektüre im Garten der Eltern, warmer Hollerröster an den Lippen, sich verändernde Körperlichkeit, Holzpritschen, der dunkle Schwimmteich der Nachbarn, gestreckte Zeitwahrnehmung, das Entschwinden der Tage in die Abendsonne, Alphabete des Augenblicks.


Milo De Angelis: Alphabet des Augenblicks. Eine Gedichtsammlung/Auswahl aus De Angelis’ Werk 1976-2010, zweisprachig (italienisches Original und deutsche Übersetzungen auf Doppelseiten gedruckt zum Querlesen), publiziert bei Hanser (Edition Lyrik Kabinett 28), 2013, 160 Seiten, Euro 14,90

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