Die POESIEGALERIE stellt ihren Autor*innen Fragen zum Schreiben
Heute die Antworten von E. A. Richter
1. Schreibst du regelmäßig? Zu welchen Zeiten und an welchen Orten schreibst du?
Ich schreibe regelmäßig, allerdings mein Tagebuch, das auch ausschnittsweise an eine Adressatin hat. Ich schreibe seit meinen 14. Lebensjahr Tagebuch, jedoch mit Unterbrechungen, seit den 80er Jahren in schwarze chinesische Bücher. Die wurden dann von Dateien am Computer abgelöst, die ich dann auch bis Anfang der 10er Jahre ausgedruckt habe.
Literarische Texte schreibe ich in Phasen, d.h. es müssen sich Druck, Enttäuschung, Wut, Selbstkritik, Zeitverlust und sonst noch alles Mögliche angesammelt haben, dann gibt es einen unerwarteten Augenblick, und es diktiert sich der Text bzw. das Gedicht quasi von selbst.
2. Ist Schreiben für dich eher Handwerk oder Inspiration? Wie passen diese beiden Pole zusammen?
Die Gedichte schreiben sich von selbst in der ersten Phase. Ein Konzept kann schon der Titel sein, zum Beispiel AN LOIS oder auch FERNAUSWIRKUNG, wobei der Arbeitstitel einen anderen Schwerpunkt setzte: TÄGLICH PROD.
Das Handwerk ist für mich die Buchgestaltung, das heißt die Auswahl und die Aufeinanderfolge. Eine wichtige Rolle spielt der Zweifel, die Infragestellung der anfänglichen Idee, was sehr qualvoll, aber auch zweckmäßig sein kann. Dazu die Disruption, die darauf folgt; und wie man damit umgeht.
3. Wo findest du deine Themen? Eher in deinem Leben und unterwegs oder in Büchern und Medien?
Ich mache keine Unterscheidung zwischen den Quellen, das Leben ereignet sich überall. Für mich ist es egal, was mich schreibfähig macht. So habe ich zum Beispiel in diesem Jahr GEHTEXTE begonnen, Diktate im Gehen, häufig auf denselben Wegen.
Es gibt für mich einen Zusammenhang zwischen Lese- und Schreibfähigkeit, dem schwer zu entkommen ist. Es geht sichtlich um Sprachaufmerksamkeit in einem speziellen Sinn, nämlich Empfindlichkeit für Rhythmus und Lautlichkeit, wobei ich sehr daran glaube, dass sich in den Versen – obwohl die oft sehr prosanah erscheinen – mein Atem abbildet bzw. diese – nicht nur in der Länge – bestimmt.
4. Welche Bedingungen muss ein gelungenes Gedicht für dich erfüllen? Oder: Wann bist du sicher, dass ein Gedicht fertig ist?
Letzten Endes ist ein Gedicht nie fertig. Deshalb beginnt jedes klein und endet ohne Punkt. Und ich finde auch den Mythos, dass ich an einem Gesamtgewebe schreibe, nicht nur praktisch, sondern auch durchaus bedenkenswert. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass ich mich an die eigenen Gedichte nach kurzer Zeit nicht mehr erinnern kann, was für mich nicht schlimm ist, denn ich bin dann der Leser, der sich über manches wundert, dem vieles befremdlich erscheint. D.h. ich muss mich während der Lektüre als Autor erst selbst wieder entdecken.
5. Trifft auf dich das Diktum zu, dass Dichter*innen Seismographen ihrer Zeit sind – und wenn ja, inwiefern? Anders gefragt: Siehst du für dich als Dichterin eine Aufgabe in Bezug auf das gesellschaftliche Ganze?
Ich sah und sehe mich weiterhin osmotisch verbunden mit jedweder Umwelt. Derzeit bin ich in Venedig, heuer wegen der Architektur und auch der Tanzbiennale. Ich wohne in Castello inmitten von echten Venezianerinnen und Venezianern, sitze gern in einem Lokal an der Via Garibaldi und beobachte das Straßentheater. Auch dabei ist die Haut ein produktives Sinnesorgan, schützt aber nicht vor den Ausflüssen der Epigenetik, sowohl der Vorfahren als auch der eigenen.
Ich habe mich durch verschiedene künstlerische und gesellschaftliche Bereiche bewegt, die mich in meiner jetzigen Identität mitgestaltet haben. Dafür bin ich zumindest mitverantwortlich. Die Grundfrage ist doch, wo man mitgestaltend tätig sein kann und wo man ausgeliefert ist. Es bedarf keiner ständigen Unterwerfungsgeste, um mit sich ins Reine zu kommen und ein sensibles Gleichgewicht zu erreichen zwischen engagierter Offenheit und vernunftgemäßer Distanz.
6. Kannst du mit dem Satz „Dichten ist ein brotloser Beruf“ etwas anfangen? Oder besteht in deinem Leben eine Spannung zwischen Schreiben und Einkommen?
Ja. Die Konsequenz daraus ist, sich der Lebensunterhalt aus einer anderen Tätigkeit zu verschaffen, wofür ich aber nicht das Wort brotlos verwenden würde. Denn als Brot im Sinne von lebenserhaltender Nahrung reichen schon Luft und Licht aus, eine kleine Weile jedenfalls, und schon diese Erkenntnis erzeugt eine erquickliche Grundstimmung.
Wenn man aus der Armut kommt, stellt sich diese Frage eigentlich nicht. Und wenn man auf einem Bauernhof aufwächst, ist die Kinderarbeit inkludiert, die sich dann eben in diversen Jobs bis zum Ende des Studiums fortsetzt. Aus der Ferne betrachtet hat mir das mehr Einblick in verschiedene Berufsrealitäten verschafft, als wäre ich den geraden Weg vom Gymnasium durchs Studium als ein durch Stipendien Geförderter gegangen.
7. Welche Autorinnen und Autoren, welche Gedichte haben dich geprägt, fürs Schreiben sowie fürs Leben?
Begeistert haben mich im Lauf der Zeit viele Autorinnen und Autoren, beginnend bei Schiller, Kleist, Trakl etc. Eine Seminararbeit hat sich mit August Stramm befasst, dessen Radikalität ich zwar bewundert habe, ohne dass ich später davon infiziert worden wäre. Während des Studiums habe ich für mich – in alphabetischer Reihenfolge – Auden, Eliot und Pound entdeckt und teilweise übersetzt. Auden habe ich auch einmal in Kirchstetten besucht, er war der erste leibhaftige Dichter in meinem Leben.
Sicher haben mich meine jeweiligen Vorlieben beim Schreiben mitgesteuert, sicher auch Jandl und Mayröcker. Das Gedicht, das ich den beiden gewidmet habe, befindet sich in DAS LEERE KUVERT, 2003 erschienen, also vor 20 Jahren. Wenn ich auf diese Zeit als Autor zurückblicke, erkenne ich den Zufall als Mitproduzenten und nur wenige durchgehende Regeln, etwa Authentizität und Prosanähe. Doch in diesem Refrain tut sich etwas Umfassenderes auf:
Blut pumpt mich durch Orte und Zeiten – Eklatantes baut sich rundherum auf – Blut kehrt in sich selbst zurück
Helmut Gollner schrieb dazu mit Recht: „Die poetische Betätigung der Blutpumpe nützt nicht immer den Dingen, dem Dichter und dem Gedicht.“
8. Woran schreibst du gerade bzw. woran hast du zuletzt geschrieben?
Während der Pandemie, 2001/2002 habe ich FERNAUSWIRKUNG verfasst, 2022 TOTHOLZ, doch heuer erkannt, dass es noch nicht fertig ist. Der Umstand, dass Reto Ziegler FERNAUSWIRKUNG nicht ins Programm aufgenommen hat, hat mich geschockt und auch mit den Schwierigkeiten der Suche nach einem Verlag für einen Lyrikband konfrontiert.
9. Gibt es eine Frage, die du dir gerne selbst stellen und beantworten möchtest?
Mich beschäftigen zwei Fragen fast täglich: Wie gehe ich mit den Toten in mir um? Und: Wie bleibe ich bis zu meinem Tod derjenige, als der ich mir jetzt erscheine, vor allem als Person, die schreibt?