Rhea Krcmárová liest Catherynne M. Valentes Apocrypha
Die Entdeckung Catherynne M. Valentes und ihrer mit Mythen durchzogen Bücher verdanke ich Buffy the Vampire Slayer. Vor guten zehn Jahren stolperte ich – wohl auf Tumblr – auf meiner Suche nach für AutorInnen interessante Sekunderliteratur zur Serie über Texte der amerikanischen Autorin. Las ihren Essayband Indistinguishable from Magic, mit Gedanken über Popkultur, Schreibtechniken, Mythologie und Feminismus. Las dann Deathless, ihre sehr eigene und poetische Nachdichtung russischer Sagen. Neugierig geworden, kaufte ich mir ihre Gedichtbände Apocrypha und Oracles: A Pilgrimage. Zum Zeitpunkt der Lektüre schrieb ich primär Prosa und etwas Drama und bewunderte die sinnliche Schönheit vieler Sätze. Seit ich vor einigen Jahren den Weg zurück zur Poesie gefunden habe, warten Valentes Gedichte darauf, von mir wiedergelesen und mit – so kitschig es klingen mag – „lyrischen“ Augen neu entdeckt zu werden.
So hat der 2005 erschienene Gedichtband Apocrypha im kleinen Granny Smith-grünen Koffer zwischen Sommerkleidern den Weg ans Meer gefunden. Ich lese Valentes Gedichte in Piran, mit Blick auf das Mare Adriaticum. Auf der Treppe am Ende eines verwinkelten Gässchens. Am Balkon der Ferienwohnung über dem Platz des Ersten Mai.
Foto s© Rhea Krcmárová
She swallowed you like a circus-act, and asked for applause – smiling at me with drops of semen glistening on her lips, reciting the Vulgate. (De Naturis Bestiarium)
Mein neu erwachtes Interesse an Valentes Gedichten hängt auch mit meiner Faszination mit Mythologie zusammen, mit Sagen, Märchen, Legenden, Horror. Meinem Versuch, das zu verstehen, was das Menschsein ausmacht, was es ist, das uns durch Zeiten und Kulturen hindurch verbindet. Und der Frage: Wie geht man mit den Elementen von (vergangenen und aktuellen) Religionen, Mythen, Erzählungen um, die unsere westliche Kultur, aber auch die ganze Menschheitsgeschichte durchziehen? Wie knüpft man an Vorhandenes an, ohne in Kitsch und Pathos abzugleiten?
Catherynne M. Valente bezeichnet ihre literarischen Texte in Anspielung auf das Steampunk-Genre – nicht ohne Ironie – als Mythpunk. Wo sich bei Steampunk Elemente viktorianischer Fantasie und Technologie finden, dominieren bei Mythpunk Versatzstücke aus Mythologie, Sagen und Märchen (in Valentes Roman Deathless prallen die russische Mythen- und Sagenwelt und die Realität der russischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts aufeinander). Valente studierte die klassische Antike und lebte Jahre in Japan, und man merkt ihren Texten ein profundes Wissen um die Sagen Roms und Griechenlands, um Religionsgeschichte, aber auch um außereuropäische Mythologie an. Im Gegensatz zu manchen AutorInnen, die – wie Valente – sehr viel gelesen haben, und deren Texten man die Bemühungen anmerkt, die eigene Belesenheit möglichst breit zu kommunizieren (was diese Texte in meinen Augen sehr ermüdend und langweilig macht), habe ich beim Lesen von Apocrypha immer das Gefühl, das Angelesene dient keinem akademischen Zweck, sondern ist ein Werkzeug, um die Intentionen der Dichterin umzusetzen. Die Autorin setzt auch nicht das gleiche Wissen voraus, sondern stellt manchen Gedichten Anmerkungen voran, die das Verständnis erleichtern.
All my lovers have been saints, and prophets – mouths glutted with parchment, tongues babbling the same gutter-Greek, piled into me like relics in a silver box, one over the other – a leg, a hand, an eyelid, a cock still lying limp across my thigh, reeking of myrrh. (Apocrypha)
Apokryphen sind außerkanonische Schriften, also frühe religiöse Texte, die nie ihren Weg in den Glaubenskanon fanden. Valentes Gedichte sind keine traditionellen Nacherzählungen, keine neuen Varianten der alten Gospeln, sondern ergänzen, hinterfragen, bilden ihren ganz eigenen Umgang mit dem Kanon. Anstatt eine einfache Nachdichtung mythologischer Stoffe zu versuchen, holt die Autorin die Sagen in den modernen Alltag, oder packt zumindest moderne Elemente in Gedichte über Heilige und antike Helden, über japanische Göttinnen und märchenhaft böse Stiefmütter, über Todsünden und Terrakottakrieger. Die Geliebte heiliger Männer vergleicht sich mit Salome, erwähnt aber auch ihre schwarzen High Heels. Das lyrische Ich des Gedichts „Suzuri“ sitzt im Nachtzug von einem japanischen Festival neben den Stern-Gottheiten Orihime und Hikoboshi. Vor dem Gedicht „Perseus and the Lime Tree“ steht eine Anmerkung über den in den persischen Golf abkommandierten Flugzeugträger U.S.S. Kitty Hawk, das dem Text eine ganz andere Bedeutung und Tiefe gibt.
What grinning earth
can my pretty gold sandals touch
that will not be washed by waves
flaunting their foam like summer whites?
Diese Anachronismen stören mich nicht, im Gegenteil, sie erschaffen Verbindungen, Brücken. Trotz der oft antiken Motive fühlen die Gedichte sich zeitgemäß an.
Ein dreiteiliges Gedicht – „Song for three voices and a Lyre“ – lässt drei Frauen sprechen, deren Ehemänner in den Krieg gezogen sind. Odysseus Gemahlin Penelope zupft an ihrem „skeletthaften Leichentuch“ herum. Die namenlose Frau eines griechischen Soldaten, der mit Alexander dem Großen gen Persien gezogen ist, vermisst den Geruch des Gatten nach Brotkruste und gewaschenen Pferden, und fragt sich, ob er sich im Krieg eine neue Frau suchen werde. Eine Uni-Assistentin sehnt sich nach ihrem im Persischen Golf stationierten Partner, denkt an seine Briefe, während Bomben auf Bagdad und Falludschah fallen.
I open my palms, and a clutch of ragged mushrooms has chewed open pulpy stigmata: their brown hears bob like little pallbearers (The transfiguration of St. Theresa)
Das für mich vielleicht stärkste Gedicht erschreibt den Moment, in dem sich Achilles in die von ihm getötete Penthesilea verliebt – gleichzeitig aus der Sicht des Siegers und der Verliererin. Beim Lesen bin ich unmittelbar im Augenblick, höre die Gedanken, spüre fast körperlich das Unvermeidliche.
chesnut trees blossom above me like hydrogen bombs
phosphorescing into the slanted hours like a memory of skin
pounding white hammers bursting sky-vertebrae the press of your
oily thighs crushing agains mine smell of your sweat like a sonic
boom your hollow-point fingers straining my throat –
(Achilles and Penthesilea)
Auch ein Jahrzehnt nach der ersten Lektüre hat Apocrypha für mich nichts an dichterischen Qualitäten verloren. Die Sprache von Valentes oft balladenlangen Gedichten ist sinnlich, von einer poetischen Körperlichkeit (auch wenn mir – sogar als Feministin – das Wort „womb“ fast ein wenig zu oft vorkommt). Die Gedichte (und der letzte Teil, „Z“, eher zusammenhängende, lyrische Prosa) sind voll von ungewöhnlichen Bildern, nie gelesenen Vergleichen, Zeilen wie
Only the wraith-whore of his mother-self,
augurs like flecks of spittle at the corner of her lips,
clutching my ears with choleric tongues,
transparent hips grinding against me,
begging to have their fortune told.
(Manto Underground)
Auch wenn die Gedichte keine definitive Antwort auf die Fragen bieten, wie man mit dem Kanon und Apokryphen unserer Geschichte und Mythen umgeht (wie denn auch), bieten sie zumindest eine Möglichkeit an, und wecken in mir die Lust, den Rest von Valentes lyrischem Werk (wieder zu)entdecken.
Catherynne M. Valente: Apocrypha. Prime Books, 2005, 132 Seiten, Euro 18,40