Lukas Meschik liest Nikolaus Scheibners ethik der künstlichen intelligenz
Bevor wir die Lektüre von Nikolaus Scheibners Lyrikband beginnen, erhalten wir zum Geleit ein Motto, das vom Autor selbst stammt: „was das wissen nicht schafft / schafft das wasser.“ Es sind diese zwei Zeilen schon ein erstes Gedicht – noch vor der Titelei und dem Betreten der eigentlichen Gedichtwelt. So stimmt uns nicht nur der Inhalt des Zweizeilers auf einen Ritt im Sprachfluss ein, sondern auch seine Positionierung markiert ein Ausscheren, eine Verspieltheit, eine Feier des menschlichen Elements als Gegensatz zur Maschinenlogik.
Zum Abschluss wiederum erhalten wir ein kurzes Nachwort des Autors, ungewöhnlich für Lyrik, aber prägnant und erhellend – zu diesem später mehr. Dazwischen spielt sich eine nuancierte Sprachwerdung unserer Lebenswelt ab, die nicht nur zum Schmunzeln, sondern gehörig zum Nachdenken anregt.
Cover © Verlag fabrik.transit
(…) wenn maschinen lachen könnten würden sie es nicht
Wie sehn ich mich, Natur, nach dir
Die durchgehend in Kleinschrift gehaltene ethik der künstlichen intelligenz gliedert sich in fünf Abschnitte: holz, stein, kupfer, eisen und plastik. Sie lösen grob ein, was man sich thematisch von ihnen verspricht. Der erste Teil widmet sich der Natur, die es kaum schafft, sich gegen die Zumutungen der Moderne und unsere durchgetaktete Warenwelt durchzusetzen; dabei bräuchten wir sie dringend als Ruhepol, allein schon zum Ausruhen unserer an Digitalbildschirmen müde geschauten Augen. Trotz aller Melancholie, die Scheibner hier gekonnt einfängt, blitzt immer eine selbstironische Relativierung auf, was den Gedichten ihre Leichtigkeit gibt.
maulende blätter während ich vom kind zum dummkopf gealtert bin ist für den baum kaum der montag vergangen
Der Kosmos, aus dem geschöpft wird, ist üppig. So müssen schon einmal zwei oder drei Kurzgedichte auf einer Buchseite Platz finden, was niemals überladen wirkt, sondern eher großzügig. Wer hat nicht schon den Kopf geschüttelt über vermeintliche Weltlyrik, wo in knausriger Blasiertheit zwei, drei mickrige Zeilen auf eine Seite getropft werden, was eine Wichtigkeit behauptet, wo keine ist, sondern eher nur Papierverschwendung bedeutet. Scheibner weiß, was er hat – und das möchte er gern in der Welt sehen. Es ist nirgendwo zu viel.
affiziert ereifere ich mich am überlaufenden überfluss von ast zu hass
Einige der Gedichte sind mit Widmungen versehen, mal für aktuelle Kolleginnen und Kollegen, mal für Sigmund Freud oder eine unbekannte Person. Zwei sprachspielerische Gedichte winken Ernst Jandl zu, erst „eingedenk“, dann „zugedankt“. Jandl hätte damit seine Freude gehabt. (Gerade merke ich: Als Freud’schen Verschreiber hatte ich den Vater der Psychoanalyse Sigmund „Freund“ getauft – auch nicht falsch.) Vielleicht sind manche der Wortverdreher gerade im „holz“-Kapitel allzu gewollt oder „hölzern“, aber das ist Geschmackssache und im Zweifelsfall der Intuition des Verfassers zu überlassen.
die zecke der zeck reinigt den kittel
Ein analoger Mensch in einer digitalen Welt
Mit dem zweiten Abschnitt „stein“ betreten wir die Dingwelt, was im dritten Abschnitt „kupfer“ in die Sphäre von Technologie und Mikrochips übergeht und mit „eisen“ und „plastik“ das Artifizielle und wie wir uns dazu verhalten durchdekliniert. Nach und nach entrollt Scheibner sein eigentliches lyrisches Programm. Der Titel ethik der künstlichen intelligenz ist natürlich eine Falle und stellt uns ein Bein, denn er ist keine Feststellung, sondern eine Frage – oder nur insoweit eine Feststellung, als er das moralische Bewerten der Chatbots und angeblichen Denkmaschinen massiv in Frage stellt. Maschinen haben kein Gewissen. Wir haben eines – hätten eines, wenn wir uns darauf besinnen würden. Scheibner zeigt uns in seinen Gedichten ein Individuum, das sich in einer vernetzten, beschleunigten Gegenwart zurechtfinden muss, sich dabei oft nur wundern kann über die Denkfaulheit und Bequemlichkeit der Mitmenschen. Das Freilegen so mancher Diskursräume als offene Wunden ist hochpolitisch.
(…) warum also wird nicht ständig gestritten? wieso die unerklärlichen streitpausen? woher der temporäre streitverzicht? auch darüber wird trefflich gestritten denn selbst die dichter wissen es nicht die dichterinnen könnten es wissen aber die suchen offenbar gerade streit und sagen es deshalb nicht
Als letzter Rückszugsort bleibt die Sprache, das reflektierte Schauen und Benennen. Konkret formuliert Scheibner einen Glauben an die Kraft der Lyrik. So beklagt er in zwei Versionen einen „gedichtemangel“, denn die „erdrückende last der romane / ist kaum noch auszuhalten“. Dieses Verfechten des lyrischen Standpunkts ist nicht nur so dahingesagt, sondern intellektuell gedeckt und sozusagen abgesichert: Maschinen mögen in der Lage sein, einwandfreie Prosasätze und Gebrauchstexte zu verfassen, die freie Form des Dichtens (wo es nicht in Beliebigkeit ausartet) scheint aber noch uns Menschen vorbehalten. Ein Standpunkt, den man vertreten – den man aber auch mit immer schlüssigeren Argumenten negieren kann.
Wunderbar gefährliche Worte
Ein unscheinbares Highlight in Scheibners Band ist die mittig angesiedelte „LISTE DER GEFÄHRLICHSTEN WORTE DER WELT*“. Dabei handelt es sich um ein strenges Aufzählungsgedicht, das stur die sechsundzwanzig Buchstaben unseres Alphabets herunterrattert.
das A-Wort das B-Wort das C-Wort (…)
Das Sternchen nach dem Titel findet seine Entsprechung auf der gegenüberliegenden Seite: „*LESEN AUF EIGENE GEFAHR“. Die folgende Litanei an Warnhinweisen, das Gedicht niemandem zu zeigen und bei Antreffen eines der Wörter sofort den Notruf zu wählen, ist eine köstliche Persiflage auf missverstandene politische Korrektheit, wo wir nicht einmal mehr lesen dürfen, was wir nicht sagen dürfen – und genau das deshalb vielleicht gar nicht wissen. (Um kurz den Vorwurf zu entkräften, das seien rechtskonservative Hirngespinste: Eben las ich einen Essay-Band über Cancel-Culture, in dem sich die Autorin Mithu Sanyal über Enid Blyton empört, womöglich zurecht. Leider kennen wir von angeprangerten Begriffen nur die Anfangsbuchstaben, der Rest sind Sternchen; es handelt sich dabei nicht um das zurecht verpönte N-Wort, sondern um altmodische britische Slang-Ausdrücke, von denen ich selbst nicht weiß, wie sie lauten – es wäre zu gefährlich, sie uns zu verraten, weil uns ein verantwortungsvoller Umgang mit diesem Wissen nicht zuzutrauen ist. Wokeness für Fortgeschrittene …)
ethik der künstlichen intelligenz ist nur an der Oberfläche eine Aufzählung von Sprachspielen und Kalauern. Wer genauer hinsieht, entdeckt darin das kleine Drama des weltanschaulich unbedenklichen Menschen, der sich aber trotzdem das Denken nicht verbieten lassen will und nicht jede dumme Idee gutheißen muss.
Im bereits erwähnten Nachwort schließt sich der Kreis. (Das trotzige Beharren auf Kleinschreibung und der konsequente Verzicht auf Beistriche lenken hier leider etwas vom Inhalt ab – besonders schade, weil auf kompakten drei Seiten so viel Bemerkens- und Bedenkenswertes steht.) Was in der Lyrik als Schweben eingefangen wurde, wird hier als Prosa auf den Boden der Tatsachen gestellt: Unreflektierter, blinder Technikglaube tritt ins Leere, wir müssen uns auf das besinnen, was uns zu Menschen macht.
und man muss sich mit der ungeliebten einsicht auseinandersetzen dass zivilisation sich nicht in der entwicklung neuer möglichkeiten erschöpft sondern im wesentlichen in der kultivierten fähigkeit besteht zum wohle der gemeinschaft verzicht zu üben etwa hinsichtlich des rechts des stärkeren hinsichtlich gemeinschaftlicher übereinkünfte der zügelung emotionaler impulse eines ungehemmten gewinnstrebens und anything goes.
Bei Scheibner wird deutlich: Wir sind eine ulkige Spezies, die sich in gedanklichen und emotionalen Abzweigungen verliert, nicht immer zu unserem Vorteil. Seine Sprache verhärtet dabei nie, bleibt leichtfüßig und verspielt; er geht mit großer Ernsthaftigkeit vor, ohne sich dabei zu ernst zu nehmen. Die Gedichte schütteln über so manche Verstiegenheit den Kopf, lassen sich dabei aber nicht den Spaß verderben. Für Sprachmenschen gilt, dass sie besonders „getriggert“ werden, wo es unzumutbare (und unbegründbare), rabiate Eingriffe in die Sprache gibt. Denn da wird es persönlich. Sprache ist ein Zufluchtsort. Will ihr jemand an den Kragen, dann fährt sie ihre Krallen aus und nimmt Verteidigungshaltung ein. Im besten Fall so augenzwinkernd und gewitzt wie Nikolaus Scheibner mit seinem aktuellen Gedichtband.
HINWEIS: Die angegebene Stelle aus dem Buch Canceln. Ein notwendiger Streit ist nur halbrichtig wiedergegeben, weil aus dem Gedächtnis zitiert. Eine nachträgliche Überprüfung ergibt, dass meine Kritik unpräzise war. Tatsächlich werden von Sanyal zwei Begriffe nicht durch Sternchen, sondern durch „x“ unkenntlich gemacht, nämlich „Sxxxo“ und „gxxxxxxg“. Diese Begriffe werden zuvor ausgeschrieben, allerdings als in Klammern gesetztes Zitat aus anderer Quelle; was an ihnen problematisch ist, wird nicht benannt bzw. nur angedeutet. Ich selbst scheine meine Lektüre wohl zwischen dem Ausschreiben der Begriffe und ihrer Unkenntlichmachung unterbrochen zu haben, weshalb ich sie mir durch Google-Recherche zusammenreimen musste. Das ist meiner eigenen Nachlässigkeit geschuldet – allerdings zeigt es, dass mit der Voldemortisierung von Wörtern ein kindisches Spielchen beginnt, das zu Verständnisproblemen und Missverständnissen führt. Zur Veranschaulichung dieses Umstands belasse ich die betreffende Stelle in meiner Rezension in ihrer ursprünglichen Fassung.
Nikolaus Scheibner: ethik der künstlichen intelligenz. fabrik.transit 2023. 120 Seiten. Euro 18,–