Die Rezensent*innen der Poesiegalerie empfehlen:
- Daniela Kocmut: Freitauchen.
- Maë Schwinghammer: Covids Metamorphosen.
- Fiston Mwanza Mujila: Kasala für meinen Kaku & andere Gedichte.
- Reinhard Lechner: Portraits mit Riesenkalmar.
- Michael Stavarič: Die Suche nach dem Ende der Dunkelheit.
- Barbara Hundegger: [ in jeder zelle des körpers wohnt ein gedächtnis ].
- Nikolaus Scheibner: ethik der künstlichen intelligenz.
- Julia Costa: hier.
- Franz Josef Czernin: geliehene zungen 2023.
- Petra Ganglbauer: Lauergrenze, Mensch!
- Robert Schindel: Flussgang.
- Margret Kreidl: Mehr Frauen als Antworten.
Edition Keiper. Graz, 2022. 120 S, € 16,50
„Daniela Kocmut, die in Kärnten aufgewachsene slowenischstämmige Dichterin und Übersetzerin, führt uns in Freitauchen in ihre doppelte Sprachwelt. Ihre Gedichte erzählen davon, wie es ist, mit zwei Zungen zu sprechen und sich beim Übersetzen in die Haut und in den Kopf des anderen zu begeben. Die Literatur bewohnt sie als „mehrsprachiges Haus“, wie sie in Gedichten bekennt, die sie großen slowenisch schreibenden Dichter*innen wie Fabjan Hafner, Florjan Lipuš oder Maruša Krese gewidmet hat. Besonders in dem Kapitel „sprachzeich(nung)en“ wechselt sie dann auch spielerisch zwischen den beiden Sprachen hin und her. Der Ton, den Kocmut dabei anschlägt, wirkt unangestrengt und erzeugt ein Gefühl von großer Nähe. Wir folgen ihr gern in die Sorgen und Gedanken des Alltags, wenn sie über einen vergessenen „Geburtstag“, die „Frau im Mond“ oder über „Jugonostalgie“ und das Leben im Heute sinniert.“ – Udo Kawasser
zur Besprechung: Intimität zwischen den Zeich(nung)en
Maë Schwinghammer: Covids Metamorphosen.
Klever Verlag, Wien 2022. 104 S, € 18,–
„Wie der Titel schon andeutet, spielen in Maë Schwinghammers Debüt die klassischen Metamorphosen Ovids eine wichtige Rolle. Aus ihnen entlehnt Schwinghammer mythologische Figuren und stellt diesen nonchalant die Änderungen gegenüber, welche die Pandemie verursachte. Dennoch ist es kein COVID-Tagebuch, sondern der Themenkreis Geschlecht, Gender und Transsexualismus wird, allerdings stets unaufdringlich, zum inhaltlichen Mittelpunkt des Bandes. Die Veränderungen und Unsicherheiten, mit denen die betroffenen Menschen oft umgehen müssen, sind in Schwinghammers Lyrik (mit)fühlbar. Die Texte verweben ihre lyrische Sprache zu einem rhythmischen, geradezu musikalischen Kunstwerk, das römisch-griechische Mythen mit aktuellen Themen vernetzt. Ein Buch, das inhaltlich ebenso verführt wie mit der auffällig kunstvollen und sorgfältigen Gestaltung durch den Verlag.“ – Klaus Ebner
zur Besprechung: Zeit im Wandel
Fiston Mwanza Mujila: Kasala für meinen Kaku & andere Gedichte.
Ritter Verlag, Klagenfurt, 2022. 176 S, € 23,–
„Mwanza Mujilas Texte sind zu großen Teilen „Kasalas“, eine mündliche Literaturgattung aus seiner Heimat Kongo, und der titelgebende Kaku ist der Urgroßvater des lyrischen Ichs. Sie sind formal ähnlich gebaut, in freien Rhythmen, mit Enjambements und in lockerem Flattersatz gesetzt. Existenzielle Einsamkeit ist eine Erfahrung, die ein Exilierter wohl genauestens kennt; verständlich deshalb die Hinwendung zur eigenen Kultur und die Beschwörung der Ahnen, die für europäische Ohren etwas Befremdliches hat. Dem sehr schön ausgestatteten Band, der auch von hinten gelesen werden kann, wo die Gedichte im französischen Original abgedruckt sind, ist auch ein Interview mit Mwanza Mujila beigegeben. In diesem erläutert der Autor: „Diese Gedichtsammlung stellt ein Gespräch mit mir selbst dar“ – und bezeichnet sich selbst als „Verfechter der Opazität“ und der „Subjektivität“. Auf jeden Fall verführen seine Gedichte dazu, in eine andere Kultur einzutauchen.“ – Nicole Streitler-Kastberger
zur Besprechung: Selbstbildnis mit Urgroßvater
Reinhard Lechner: Portraits mit Riesenkalmar.
Edition Melos, Wien, 2022. 80 S, € 22,–
„Der Titel von Reinhard Lechners Buch trügt nicht. Dies sind tatsächlich Portraits mit Riesenkalmar: Gedichte, die uns eine Figur präsentieren, meist eine menschliche, und zwar immer vor dem Hintergrund von und in Bezug auf allerhand Natur und Kreatur. Diese Porträtsammlung vermittelt nicht so sehr zwischen den Denkwelten von artifizieller Porträtmalerei und von auf Bruchlosigkeit abgestelltem Nature-Writing – sie inszeniert vielmehr die Frage, ob die Grenze zwischen dem einen und dem anderen (dem symbolisch und diskursiv Überdeterminierten und dem Unmittelbaren) immer erkennbar sein muss. Denn jedes Tier, das vorkommt, verdankt seine Funktion im Gesamtensemble den ubiquitären, in Fleisch und Blut übergegangenen Tropen, oder es verhält sich doch erkennbar zu ihnen. Aber die sprachlich sedimentierte Wirklichkeit ist konkret, wird sich also nicht verlässlich auf die Erfordernisse der Emblematik und Porträtkunst herunterbrechen lassen. Insgesamt: ein Ausflug in ein sehr lebendiges Museum.“ – Stefan Schmitzer
zur Besprechung: Ölbilder mit Dohle oder „Truth is cringe“
Michael Stavarič: Die Suche nach dem Ende der Dunkelheit. Gedichte.
Limbus, Innsbruck – Wien, 2023. 96 S, € 15,–
„Typisch für die Literatur von Michael Stavarič ist eine Beimischung des Surrealen, Fantastischen und Grotesken in realistischen Settings, wodurch auch dieser Band etwas Spielerisches bekommt. Ein namenlos bleibendes Paar lebt offenbar schon eine ganze Weile am Meer. Die Gedichte reflektieren seine Suche nach Zeitvertreib und Entdeckungsreisen quasi vor der Haustür. Dabei ist allein schon die karge Küstenlandschaft mit ihrem rauen, feuchten Klima ein endloses Reservoir für kreative Spielereien und Fantasien. Dazu gehört der wiederkehrende „Satz des Monats“, der sich aus den Nachrichten aus Radio, Fernsehen oder dem Internet speist. Details aus dem zeitgenössischen Alltag werden mit Szenen aus Träumen und Visionen verwoben – ein Sammelsurium an aberwitzigen Situationen, aber auch eine berührende Liebesgeschichte. Das letzte, ungewöhnlich lange Gedicht endet auf Englisch mit den Worten: „it’s just me and her (…) it’s just me and him“.“ – Jelena Dabic
zur Besprechung: Verspielt, frei und erfinderisch sein
Barbara Hundegger: [ in jeder zelle des körpers wohnt ein gedächtnis ].
Haymon, Innsbruck, 2023. 224 S, € 23,50
„Das Schöne, Tröstliche von Barbara Hundeggers Dichtung liegt in der Leichtigkeit, mit der sie ihre zum Teil schweren Themen angeht. Ihre durchkomponierten, oft humorvollen Texte eint ihre Form. Sie sind in einem schmalen Blocksatz formatiert und mit senkrechten Strichen strukturiert. Innerhalb dieser strengen Vorgaben lässt Hundegger ihrer Phantasie, ihrer poetischen Weltwahrnehmung freien Lauf. Als hellwache Zeitgenossin kommentiert sie dabei auch ihr soziales und politisches Umfeld. Die fröhlich dahinklappernden Binnenreime, die oft einen Hang zum Kalauer haben, verbergen dabei eher schlecht als recht das Bedrohliche der Situation. Soziale Ungerechtigkeiten werden klar benannt: Während die einen im „lockdown“ „zu fünft auf 60 qm ohne balkon“ angewiesen sind, jetten die anderen im „lockup“ „zu zweit im privat-jet: zwecks home- / office 8000 km auf die insel mustique“. Auf 32 Seiten wird das Gefühl der Angst durchdekliniert, und in „[ tant’ | fragmente ]“ geht es um die Propaganda von Volksweisheiten.“ – Kirstin Breitenfellner
zur Besprechung: von innen wolkenlos
Nikolaus Scheibner: ethik der künstlichen intelligenz.
fabrik.transit, Wien, 2023. 120 S, € 18,–
„Der durchgehend in Kleinschrift gehaltene Band gliedert sich in fünf Abschnitte. In „holz“ erleben wir eine Natur, die es kaum schafft, sich gegen die Zumutungen der modernen Warenwelt durchzusetzen, mit „stein“ betreten wir die Dingwelt, mit „kupfer“ die Sphäre von Technologie und Mikrochips, mit „eisen“ und „plastik“ die endgültige Entfremdung im Artifiziellen. Trotz aller Melancholie blitzt immer eine selbstironische Relativierung auf, was den Gedichten eine angenehme Leichtigkeit gibt. Scheibner zeigt uns in seinem vor Ideen sprudelnden Kosmos ein Individuum, das sich inmitten einer vernetzten, beschleunigten Gegenwart zurechtfinden muss, sich dabei oft nur wundern kann über die Denkfaulheit und Bequemlichkeit der Mitmenschen. Sprache bleibt der letzte Zufluchtsort. Will ihr jemand an den Kragen, dann fährt sie ihre Krallen aus und nimmt Verteidigungshaltung ein. Im besten Fall so augenzwinkernd und gewitzt wie Nikolaus Scheibner mit seinem neuen Gedichtband.“ – Lukas Meschik
zur Besprechung: Wehrhafte Sprache
Edition Keiper, Wien, 2023. 84 S, € 16,50
„Das poetische Debüt von Julia Costa erzählt, wie der Titel hier nahelegt, von einer Ankunft. Ein namenloses Du ist in einem Hier angekommen, das nicht sein/ihr eigenes ist. Der Preis für die Rettung, die das Hier verspricht, besteht in einem „Warten auf Dokumente“, die dem Du erst eine selbstständige Existenz erlauben werden. Costa fängt diesen Zustand der Unsicherheit, in dem sich die Situation von Geflüchteten spiegelt, mit protokollarischer Geste ein und konfrontiert diesen mit einer poetischen Aufmerksamkeit für das Ambiente: die zunächst fremde Natur, die sich in ihrem fraglosen Hier-Sein als möglicher Resonanzraum für das Ankommen anbietet. Alles will neu gelernt sein: das Atmen, das Sprechen, das Kochen, das Gefühl für das Selbstverständliche. In ihrem feingliedrigen, subtilen und nie plakativen Langgedicht erschafft Julia Costa etwas, das über die Anspielungen auf eine konkrete Konstellation hinausreicht: ein „poetoökologisches Subjekt“, eine Lebensweise, die auf dem Prinzip des regenerativen Wachstums beruht.“ – Helmut Neundlinger
zur Besprechung: Ankunft im Ungewissen
Franz Josef Czernin: geliehene zungen 2023.
Hanser, München, 2023. 88 S, € 22,70
„Was war Kunstproduktion jemals anderes als eine Arbeit mit bereits vorgefundenem und in Geflechten neu verwobenem Material? Gibt es so etwas wie Eigenes denn überhaupt? Ein Dichter, der diese Auseinandersetzung in seiner jüngsten Arbeit thematisiert, ist Franz Josef Czernin. Er jongliert mit Zitaten und Anglizismen und versucht gleichzeitig, sich diese literarisch einzuverleiben. Dabei greift er auf traditionelle Formen zurück und reimt ganz schamlos „kopf“ auf „schopf“, „spreizt“ auf „aufgereizt“ und „mist“ auf „vermisst“, spielt eindrucksvoll mit End- und mit Binnenreimen sowie mit onomatopoetischen Elementen, setzt sich aber auch mit Genres wie der Fabel oder mit anderen Künsten von der Oper bis zum Zirkus auseinander. Genauso, wie Fremdmaterial in die Texte hineinverwoben wird, wird auch das Ich neu gedacht, werden seine Facetten ausgelotet. „self portrait as an old artist“ heißt eines der ganz besonderen Gedichte in dem Band. In dieser Wortkomposition setzt sich der 1952 geborene ein wenig ironisch mit dem Älterwerden auseinander.“ – Sophie Reyer
zur Besprechung: Von geliehenen Zungen und alten Hüten
Petra Ganglbauer: Lauergrenze, Mensch!
Limbus, Innsbruck- Wien, 2023. 96 S, € 15,–
„Petra Ganglbauer arbeitet intensiv an der Sprache. Ihr Buch enthält Gedichte, die ebenso experimentell wie gesellschaftskritisch sind – Umweltverschmutzung, Klimawandel und Krieg kommen thematisch zu Wort. Formales erhält dabei den Stellenwert, der ihm in guter Lyrik zusteht. Assoziationsketten und Wortspiele schlüpfen in ein optisch ansprechendes Kleid mit Kursivdruck, Sonderzeichen („&“) und seltener Großbuchstaben, deren Aufschrei-Charakter sofort ins Auge sticht. Die Gedichte wollen sorgfältig gelesen werden, weil der eigene Kopf gern etwas anderes liest, als tatsächlich geschrieben steht – Ganglbauer spielt bewusst mit dieser typischen Lesereaktion und lenkt die Aussage durch den Tausch von Buchstaben unerwartet in eine andere Richtung. Lauergrenze, Mensch! ist ein Lyrikband auf höchstem Niveau.“ – Klaus Ebner
Zur Besprechung: Was wir der Welt antun
Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2023. 95 S, € 24,–
„Mit Flussgang setzt der bald achtzigjährige Robert Schindel sein lyrisches Werk auf beachtliche Weise fort. Die neuen Gedichte sind keineswegs altersmilde, eher ein altersgelassenes Anheben zum späten Gesang, reich an originellen Bildern für vermeintlich Bekanntes. In sieben Kapiteln mäandert der Autor durch Natur, Vergangenheit und Gegenwart, macht es sich darin nie zu gemütlich. Er kreiert Szenen vertrauter Zweisamkeit, wo die größte und schönste Nähe zwischen Menschen darin besteht, mit- und über einander lachen zu können. Manche Gedichte sind verspielt und herrlich derb, ohne jemals ins Vulgäre abzurutschen. Schindel gelingt meisterhaft der Spagat zwischen hochverdichteter Poesie und nonchalanter Umgangssprache, in der man den banalen, grindigen Alltag erkennt, den zu verbringen eher ein Durchwursteln und Durchschwindeln ist. Die Auseinandersetzung mit Körperlichkeit und Vergänglichkeit gelingt ohne Jammer, ist berührend, tiefsinnig und oft höchst amüsant.“ – Lukas Meschik
Margret Kreidl: Mehr Frauen als Antworten. Gedichte mit Fußnoten.
Korrespondenzen, Wien, 2023. 91 S, € 20,–
„In Mehr Frauen als Antworten zeigt sich Margret Kreidl als versierte und gewitzte Lyrikerin, die mit der Gattung des Gedichts spielt und literarisches mit wissenschaftlichem Schreiben verknüpft. Die Fußnoten liefern Kontexte zum jeweiligen Gedicht, sei es eine Textreferenz oder ein Entstehungsgrund. So tun sich neue Sinnperspektiven und eben Kontexte auf, die man ohne diese vermutlich nicht hergestellt hätte. Durch sie folgt man Kreidl in ihren Lektüren, in ihrer intellektuellen Biografie, die die Gedichte erst ermöglicht haben. Kreidl ist sich des Unüblichen ihres Vorgehens durchaus bewusst und verweist ironisch darauf. Ihre Texte sind Ausdruck eines weiblichen Schreibens, das die Festschreibungen des Patriarchalen aufzusprengen vermag, nicht nur durch die Form, sondern auch durch den Inhalt der Gedichte, die sich an Klischees und Rollenzuschreibungen abarbeiten.“ – Nicole Streitler-Kastberger