Sophie Reyer liest Franz Josef Czernins geliehene zungen
Versatzstücke, Collagen: Was war Kunstproduktion jemals anderes als eine Arbeit mit bereits vorgefundenem und in Geflechten neu verwobenem Material? Oder anders formuliert: Worin liegt das Eigene? Gibt es so etwas wie Eigenes denn überhaupt?
Diese Frage stellt sich immer wieder aufs Neue, besonders in der Auseinandersetzung mit diversen kulturellen Ausdrucksformen. Und ein Dichter, der diese Auseinandersetzung in seiner jüngsten Arbeit thematisiert, ist Franz Josef Czernin. geliehene zungen nennt sich sein Gedichtband, der mit Zitaten und Anglizismen spielt und gleichzeitig versucht, sich dieses Fremdmaterial literarisch einzuverleiben.
Dass es schwer ist, den „eigenen Kopf“ – hier eine Metapher für das Individuelle – zu finden, lässt auch gleich das Eröffnungsgedicht anklingen: „unter meinen alten hüten / sucht ich meinen kopf“ heißt es hier. Leider erfolglos, denn: „doch was ich fand war eine taube, / ihren schönen schopf“ fährt der Dichter fort – und meint damit wohl das Fremde, Fliegende und Fliehende, das einem Kunstschaffenden stets im Hirn herumschwirrt. Soll das denn heißen, dass alle Schreibenden einen Vogel haben?
Kopieren, Collagieren, Kommentieren
Eines jedenfalls ist sicher: Die Arbeit mit Fremdmaterial, das Zitieren, das „Abschreiben“ und Weiterverweben ist nichts Neues – und doch scheint es in der Literatur nach wie vor eine wichtige Herangehensweise zu sein, wenn es darum geht, eine individuelle Stimme zu kreieren. Dass dabei heute wieder auf traditionelle Formen wie Reimschemata zurückgegriffen werden darf, beweist Czernins neue Arbeit, in der ganz schamlos „kopf“ auf „schopf“ und wenig später auch „spreizt“ auf „aufgereizt“ sowie „mist“ auf „vermisst“ folgen. Aber auch das Spiel mit Zitatmaterial hat Franz Josef Czernin in geliehene zungen auf die Spitze getrieben.
Wie so oft in einem Werk der Postmoderne wird hier kulturelles Allgemeingut, sprich Partikel aus Texten, Bildern und Musik, aufgenommen und in die eigene Arbeit hineinverwoben oder zitiert – genauso wie Begriffe aus Film und Kommerz (im Sinne von Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit aus dem Jahr 1935). Da wundert es auch nicht, dass ein Gedicht „Jekyll and Hyde heißt“ – nach dem Roman von Robert Lewis Stevenson aus dem Jahr 1885.
„auch die grimasse ist verschmerzter kot / denn das gesicht hat beide backen“ – so beginnt das Poem, das dem Gefühl der Selbstverdopplung in Kreuzreimen nachzuspüren versucht, und weiter: „da uns verpasse zweimal einen leib/ sind beide auch verscherztes brot / und weil ich doppelt mich verprasse / sitzen not mir, grimm im nackten nacken: // uns bleibt bloss, was immer droht.“ Auffallend an diesem Text ist nicht nur das Spiel mit End- und mit Binnenreimen sondern auch ein eindrucksvoller Umgang mit onomatopoetischen Elementen.
Das etwas andere Selbstporträt
Den Dichter Franz Josef Czernin interessieren übrigens noch ganz andere Dinge als bloß schizophrene Figuren aus der Literatur. So setzt er sich in geliehene zungen auch mit Genres wie der Fabel, aber ebenso mit anderen Künsten von der Oper bis zum Zirkus auseinander – beispielsweise in dem Gedicht „zirkus krone“:
im zenit dies throne, mich erzelterlich, im in-, ja auch äteren rings erküre ubiquit umprunkt bin ich ein verfüger von maternen mustern und schablonen
Und Gedanken zu Dichtergrößen wie Shakespeare – „was bein von bein hier wieder scheidet/ jetzt spaltet lingual die zungen“ heißt es über den Autor auf Seite 37 – und dem eigenen Zeitgenossen und Kollegen Thomas Kling dürfen ebenfalls nicht fehlen. Genauso, wie Fremdmaterial in die Texte hineinverwoben wird, wird auch das Ich neu gedacht, werden seine Facetten ausgelotet. „self portrait as an old artist“ heißt demnach eines der ganz besonderen Gedichte in dem Band. In dieser Wortkomposition setzt sich der 1952 geborene Dichter ein wenig ironisch mit dem Älterwerden auseinander, wenn es da heißt:
einst uns dramadonner, bretterdeuter, theatralisch wort- und weltenretter, all die phrasen, die für uns verdrosch, und in petto stets das volle panorama dafür steht jetzt allein die alte leiter über die hinaus ich kletter, über alle wolken, jedes wetter dort bin ich ein letzter frosch prophezei mein licht, das längst erlosch
Dass Franz Josef Czernin auch weiterhin höher klimmen und noch viele Bücher dieser Art gestalten möge, kann man sich nur wünschen!
Franz Josef Czernin: geliehene zungen 2023. 88 Seiten. Euro 22,70