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Über Toiletten und Schuldgefühle

Über Toiletten und Schuldgefühle

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Sophie Reyer liest Rudolf KrausSchuldgefühle allerorts


Es ist immer die Leerstelle, um die ein gutes Gedicht kreist – und jemand, der mit dem Weglassen und so dem Heraufbeschwören des Wesentlichen besonders gekonnt umzugehen weiß, ist Rudolf Kraus. Dass er im Herbst geboren wurde, mag vielleicht zu der Melancholie beigetragen haben, die in seinen Texten spürbar wird: Man meint, Abschied zu schmecken, wenn man die Gedichte von Rudolf Kraus liest, meint, die Blätter leise fallen und das Laub rascheln zu hören – doch auch Gedanken, losgelöst von Individuen, schweben gleichsam geisterhaft durch den Raum.

Cover Kraus Rudolf schuldgefühle allerorts

„ich laufe durch ein gedankenlabyrinth“ heißt es bereits auf Seite neun. Und dann „ausgang / ausweg / aus“. Aber: Aus ist es keineswegs. Es hat erst angefangen! Zumindest in diesem besonderen Gedichtband.

Cover © Verlagshaus Hernals

Das wird spätestens beim nächsten Gedicht klar, das sich „die zigarette“ nennt und folgendermaßen lautet:

ja, ich brauche sie, 
ich kann ohne sie 
nicht sein. 
man nennt dies sucht. 
und ich rauche, rauche sie:
die zigarette. 
und ohne sie, 
was wäre ich? 
nicht mehr süchtig, geheilt? 
nein – allein.“ 

Ein starker Anfang für ein Lebenswerk, oder?

Facettenreichtum und Schaffensphasen

Aufgewachsen im niederösterreichischen Bad Fischau-Brunn, lebt Kraus heute als Schriftsteller und Bibliothekar in Wien – und sein Band Schuldgefühle allerorts versammelt „Sprachminiaturen von 1975 bis 2022“, die es in sich haben. Dass der Dichter in den unterschiedlichen Perioden seines Schaffens, die er mit Titeln versieht – so startet der Band beispielsweise mit der Überschrift „eigenart- [verstreutes aus den anfängen 1975–1988]“ und endet mit „Dreizeiler“ – seinem Stil treu geblieben ist, wird nicht allein durch die sich konsequent durch den Band ziehende Kleinschreibung klar. Auch thematisch hat Rudolf Kraus mutig seine existenziellen Inhalte weiterverfolgt und transformiert – und ist dabei seinem inneren Kind treu geblieben. So meinen wir zumindest zu glauben, wenn wir lesen:

in den ketten 
der erziehung
sind die träume immer wahr
früchte aller lügen 
heißen erwachsensein.

Doch obwohl das Verspielte im Geist des Dichters am Leben blieb, rechnet er auch immer wieder mit Schmerz ab. „immer wieder dieser unermessliche trübsinn aus sehnsucht und elegie“ heißt es da in einem der Texte – und dass Sehnsucht von Sucht nur einen Katzensprung entfernt ist, wissen wir ja alle. „ohne sie, was wäre ich?“ schreibt Kraus dementsprechend im oben zitierten Gedicht „die zigarette“ auch: „nicht mehr süchtig, geheilt? nein – allein.“

Dass das Alleinsein eine Grundkonstitution des Menschlichen ist, wird übrigens auch in anderen Miniaturen des Dichters klar: „manchmal ist es schön allein zu sein“, gibt der Dichter so im Text „für sich“ zu, „keine frage und keine schuldig gebliebene antwort“. Die Gedichte erzählen, wie hier zweifellos klar wird, vom Schmerz und dem Ringen mit und um das Leben und sind doch nie nur hoffnungslos – im Gegenteil, sie bestechen sogar durch eine gehörige Portion an Witz und Humor.

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Das wird bereits anhand einzelner klingender Titel wie „aha“ oder „w.c.“ klar – wer sonst wagt es in der Königsdisziplin, der Gattung Lyrik, schon, dem „Häuserl“ einen ganzen Siebenzeiler zu widmen? Das Gedicht, das von der sogenannten Toilette inspiriert ist, bricht jedoch – und hier wird es noch besser – mit jeder erwartenden Lesererwartung, denn es lautet bezeichnenderweise ganz lapidar:

wenn sie wiederkommen
die dämonen 
dann lass ich sie.

Präzision und poetischer Witz

Noch Fragen? Eines ist spätestens bei diesem Gedicht evident: Kraus’Arbeit besticht – und das nicht nur mit seinem poetischen Witz, sondern vor allem auch durch seine unvergleichliche Präzision. Aber auch die Lautmalerei ist Rudolf Kraus alles andere als fremd – so experimentiert er in dem Gedicht „aufstand“ auf fulminante Art und Weise mit dem Vokal O:

das maß ist voll
das boot ist voll
quoten statt brot
heimwärts in den tod

Die formale Struktur der Gedichte bedient sich einer reflektierten Herangehensweise: Gerahmt in fast nichts sind diese Sprachkleider, in denen Verzweiflung, aber auch Zärtlichkeit und Witz erfahrbar werden – und weisen dabei doch stets über ihre Ränder hinaus. Und obwohl sich Schmerz und Wut durch die Texte ziehen, bleibt die Situation nicht hoffnungslos. Schuldgefühle allerorts ist ein Band, den man immer wieder alt und neu lesen kann, ja, muss, und der zum Lachen, Weinen und Nachdenken bringt.


Rudolf Kraus: schuldgefühle allerorts. ein lesebuch. Verlagshaus Hernals, Wien, 2023. 336 Seiten. Euro 23,90

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