von Stefan Schmitzer
17:59 Uhr. Theoretisch geht es in einer Minute los, aber das wird natürlich nicht so heiß gegessen wie gekocht. Langsam kommen die Kolleg*innen und die Publikums in der IG Architektur zusammen; Sessel rücken; Gemurmel schwirrt an; Jörg Piringer – eigentlich Gast des eröffnenden Podiums – hat noch gut Zeit, sich plaudernd zum Stenografen dieses Tickers hier zu setzen und zu fragen, ob dieser in dem Sofa, wo dieser sitze, zurecht die „Loge von Waldorf und Staedtler“ vermute.
Um 18:18 Uhr eröffnet Udo Kawasser die Poesiegalerie 2023 mit einer Rede, die dem Umstand Rechnung trägt, dass die Poesiegalerie 2023 auf den Jahrestag des Novemberpogroms 1938 fällt. Er beschreibt den Zustand der Welt feat. Ukraine, Israel, Aufhetzung der Wohlstandsoasen … Kawasser greift auf Nerudas „Erklärung einiger Dinge“ zurück und landet zuletzt bei dem wiederholten Aufruf „Es lebe die Poesie“ – gemeint ist: als utopisches Gegenteil des blutigen Unfugs.
Wenn Maschinen dichten – POESIE & KI, Performance und Diskussion
Gegen halb sieben eröffnet dann Günter Vallaster die Performances der Transmedialen Poesiegalerie unter dem Titel „Wenn Maschinen dichten – POESIE & KI“ mit Jörg Piringer und Zuzana Husárová.
Piringer, recht ansatzlos, liest mit Multimedia-Unterstützung aus dem Band „Günstige Intelligenz“; zeigt vor, was mit den Unplugged-Vorgaben experimentellen Schreibens der Moderne passiert, wenn sie in die bezahlte Vollversion von ChatGPT eingestöpselt werden. Und plötzlich liest er seine Angaben und Gedanken zu jenen Vorgaben vor; ganz was Neues von Piringer, einfach nur Eigentext über ein Thema … Es geht um die Energiekosten der „intelligenten“ Textarbeit der Maschinen …
Nun Zuzana Husárová: umtriebige slowakische Maschinenpoetin mit einer – Wortwolken-Performance, Wortwiederholungs-Performance, die wiederum die möglichen Regeln für Textmontage, für Wortwolken-Performances und Gedichte zum Inhalt haben. Geschrieben hat das alles 2019 bis 2020 eine „künstliche Poetin“, ein neuronales Netz namens Liza Gennart, nur vorlesen tut das Husárová, zu suggestiven Computersounds.
Nun folgt die Diskussion. Piringer, Husárová und IG-Autorinnen-Vorsitzender Gerhard Ruiss, moderiert von Günter Vallaster, sprechen über Ästhetik und Implikationen der Maschinenliteratur. „Ist das so etwas wie im Barock, oder ist das ein neues Medium? Das ist die ästhetische Frage, und die rechtliche ist: Was ist der Mehrwert, wem gebührt der Mehrwert?“ – Weit in der Diskussion (19:20 Uhr), zahlreiche Fragen nach dem Rechtlichen der KI-Literatur und ihren gesellschaftlichen Folgen sind schon durchdiskutiert, wirft Vallaster in die Runde: Wie damit umgehen, wenn solche (d.h. KI-) Texte bei diversen Preisen eingereicht und den Redaktionen angeboten werden? Piringer: „Ja klar, wenn sie gut sind …“ Husárová: „Bis es plötzlich um Pilzführer auf Amazon geht …“ Ruiss: „Genau: Wer ist dann zuständig?“ – Schlusswort Husárová: „Ich hasse große Statements.“ – Pause.
Die Lesungen
19:52 Uhr. Moderatorin Kirstin Breitenfellner („Wenn alle geruhen würden, ihre Plätze einzunehmen“) ist froh, dass nach dem Reden über die KI nun die Gedichte echter Menschen drankommen. Zuerst Petra Ganglbauer. Sie liest aus Lauergrenze, Mensch! (Limbus), einem Band, in dem es um Zeitgenössisches, Grenzen zwischen In- und Outgroup geht – die drei Großkapitel sind benannt nach Mensch, Tier und Pflanze, sagt die Autorin.
Die Gedichte dann sind surreale Miniaturen, auch im Klang festgemacht, über Naturbegegnung; Erfahrungen an Wänden, vor Naturgrenzen, mit fremdem Gegenüber. Oft genug „aus- / gefranste Wirklichkeit“, weil „Bäume / keine Wolken- / kratzer / sind“.
Birgit Müller-Wieland liest aus Im Blick der beschämten Bäume (Otto Müller), einem Band, der nicht nur, aber auch von der derzeitigen Verwüstung der Ukraine handelt (passend, dass die Autorin, laut Moderation, über Peter Weiss’ Ästhetik des Widerstands promoviert hat).
Das erste Gedicht, das sie liest, heißt „Brutkästen in Mariupol“ und beschreibt, was der Titel verheißt. „Atem- / zarte Zacken“. Viel später: „Die Ruinen bleiben. / Das sehen auch die Engel so.“ (Die Engel streuen dann den Kalk, der wiederum zum Himmel aufstäubt usw.) Formal kaum aufregend, inhaltlich umso schärfer.
Dine Petrik, wie wir in der Moderation erfahren, machte sich in mehreren Publikationen um das Andenken der jung verstorbenen Dichterin Hertha Kräftner verdient (Die Hügel nach der Flut. Was geschah wirklich mit Hertha K.; Ich bin wie ein kaltes Reptil, Hertha Kräftner: Spurensuche und Sittenbild; Die verfehlte Wirklichkeit). In der Lesung geht es aber um anderes, nämlich um die Texte in dem Buch Handgewebe lapisblau (Bibliothek der Provinz).
Eine musikalische, rhythmische Lesung für Gedichte, denen man die – live – so klar hörbare Komponiertheit in Jamben beim Nur-leise-Lesen nicht angesehen hätte. Sie gewinnen im Vortrag sehr. Petrik schlägt die Bögen vom Mythisch-Großen ins Alltägliche, bleibt dabei, nicht vergoldend, human, humanistisch.
20:50 Uhr. Die gestrenge Moderation von Rhea Krčmářová beendet die Pause und leitet Nils Jensen ein, den Mitherausgeber der Zeitschrift „Buchkultur“, Chef des Literaturkreises Podium, hier anwesend als Autor der Eichhörnchen-Lieder. Titel und Projekt werden biografisch erklärt: Der Autor war vor dem ersten Lockdown 2020 in das Mühlviertel geflohen, und seine Frau hatte es, noch in Wien, mit Covid „erwischt“; sie kam nicht raus, er nicht rein, und so galt es, Briefe, Beobachtungen, scheinnaive kleine Kapitel über die fortdauernd bewegte Natur in einer stillgestellten Welt zu schreiben, die sich täglich übermitteln ließen.
Hannes Vyoral, EUROPA. eine reise (edition lex liszt) – wie der Titel nahelegt, Reise- und Landschaftsgedichte, kurze Notate über die Orte, die der Verfasser besucht und gesehen hat. Die Sammlung als Ausweis von bzw. als Referenz auf die widersprüchliche Mannigfaltigkeit dessen, was so ein Mensch in so einem Leben erlebt haben kann.
Man mag daraus noch anderes destillieren – an Seelenlandschaften, Wege über den Kontinent als Wege durch die Individualgeschichte lesen. Aber es reicht eigentlich, die einzelnen Elemente und Landmarken seines EUROPA mit Vyoral zu besuchen.
Christian Steinbachers Dass es auch zählt: 9 Ziffern, 6 Hüte ist eine Sammlung von „Hutgedichten“, entstanden im Dialog auch mit französischen Liedtexten von Joseph Racaille; aber der Autor beginnt seinen Vortrag mit einem eindrucksvoll in die Form der Textperformance gebrachten Sappho-Fragment (schön, dass zumindest einer den Rhythmus der Sapphischen Strophe glaubhaft verkörpert).
In den Hutgedichten: mehr „ich“, mehr Reflexion und Gliederungskomplex, weniger Rhythmus, mehr Stimme. Absichtsvoll fragmentarisch eins wie das andere. Die(se) Welt ist kein Ganzes, ist komplex, aber dem gelegentlichen (z. B. Schneewittchen-)Kalauer zum Glück auch nicht abgeneigt … („Die Acht ist die Eieruhr der Zahlen.“)
Um 21:50 Uhr moderiert Kirstin Breitenfellner Michael Stavarič ein. Der Gedichtband, aus dem er liest – Die Suche nach dem Ende der Dunkelheit (Limbus) – ist seine 43. Publikation, wie wir lernen. Surrealistische Langgedichte, die wie ausführlich beim Dia-Abend besprochene Urlaubsschnappschüsse anmuten: Naturgewalten und mikroskopisches Zeug erscheinen als beseelte und mit agency ausgestattete Figuren, wie Leute gegenüber Subjekten, die von sich in Vergangenheiten reden.
Und damit wirken sie stets wie gerade jetzt nicht in ihrem jeweiligen Alltag. (Heißt das, das „Ende der Dunkelheit“ wird gefunden sein, wenn der Alltag, das Soziale wieder sichtbar geworden sein werden? Der Traum aus?)
Der Gründer der Poesiegalerie Udo Kawasser dankt während einer Umbaupause dem Team der Poesiegalerie … Rituale, die die Poesiegalerie seit 2018 begleiten. Diesmal klingt das so: Danke an Günter Vallaster, Rhea Krčmářová, Kirstin Breitenfellner … Letztere, von Kawasser noch mal ausführlicher angekündigt, geht jetzt ins längere Gespräch mit Stavarič zu seinen Gedichten und fragt ihn (mit Griff ins Nähkästchen persönlich verbindender Anekdoten) nach den hybriden, nicht ganz aufs einzelne Genre festlegbaren Formen, die er stets benützt und bedient. („Gegenwind von Verlegern?“ – „Man sollte auf seinen Gedichtband ,Roman‘ draufschreiben.“)
(Später in dem Gespräch bekommen wir eine „Auflösung“ der genauen Sprechsituation in den Gedichten vom Ende der Dunkelheit durch den Autor: Da ist ein Paar, und das „altert gemeinsam“ zum „guten Ende“ hin … ich entscheide mich, das nicht gehört zu haben, und im für mich Reizvolleren – nämlich Uneindeutigen – zu verharren.)
Pause um knapp vor halb elf.
21:41 Uhr. Udo Kawasser: „Bitte nicht hinten zu zelten. Kommen Sie nach vorne. Die Autoren beißen heute auch nicht.“ Also: Es geht weiter, mit nur zwanzig Minuten Verspätung.
Katharina Ingrid Godler liest aus einem Band, dessen Präsentation im letzten Jahr Covid vereitelt hatte – Die Filmstadt am Rande der Kindheit (Limbus) –, und aus Texten, die in der Zeitschrift „manuskripte“ erschienen sind.
In ein seltsam mildes Licht getaucht werden uns – der Titel von Godlers Buch ist nicht umsonst so gewählt – Topoi der Pop- und Filmwelt sowie Erinnerungssplitter einer Wiener Kindheit gezeigt, in eins (also zusammen)gesetzt. Das erstreckt sich auch auf den Frühstückstisch: „Hört ihr die Butter / auf dem Toast knirschen / die Bedürfnisse. / (…) Wir sind wie Puzzelsteine / rund.“
Raoul Eisele und Lea Menges präsentieren ihre Anthologie, erschienen bei lex liszt, die die Texte von 35 flinta-Autor*innen über ihren Schreibprozess mit Fotos der Beiträger*innen von Menges gruppiert.
Als eine der vertretenen Autor*innen liest dann Valerie Zichy – und nicht nur aus ihrem poetisch-poetologischen Beitrag im Buch, welch Letzterer es aber in sich hat, wenn wir bedenken, dass es ums Schreiben selbst geht: Die Metapher der Sonnenblume, die so und so weit wächst, dann einknickt, denn das Licht „reicht nicht esreichtnichtesreichtnicht“. Die Autorin endet mit einem Prosastück über die biografischen Wurzeln des Schreibenkönnens, Redenkönnens im Erinnern von (bestimmten) Verstorbenen: „Denke manchmal lieber an die Landschaft, die einmal ein Hier war. (…) Kannte dich nur übersetzt. (…) Weiß nur, du hast ,Lokomotive‘ zu großen Wildschweinen gesagt.“
Zuletzt die Graphic Novel von Raoul Eisele, immer wenn es ein wenig den Himmel entlanggrollt, maman (Schiler & Mücke), die er – wir erinnern uns an das Bonmot von Michael Stavarič – ursprünglich gern Graphic Poem genannt hätte, wie er sagt. Der Text ist knapp zweisprachig zwischen Deutsch und Französisch.
Erneut ein biografisches Narrativ – ein zweitgeborener Bauernsohn in Rückschau auf den (französischsprachigen) Dreck der engen Land-Kindheit, von einem (scheint’s, deutschsprachigen) Entronnensein-in-der-Stadt her. Verhandlung über Schuld und Schicksal im eigenen Selbst des Sprechers. Und, Coda: noch zwei Gedichte aus Eiseles in Vorbereitung befindlichem Band. In ruhigem, gutturalem Vortrag: „Zuhause (…) darf nicht für Verrat stehen / anders als Heimat.“
Und dann ist es halb zwölf, und der Raum ist noch gut gefüllt, und der erste Tag der Poesiegalerie endet mit der üblichen Bücher- und Zeitschriftenverlosung. Die dauert noch mal. Morgen geht es weiter. So dacht ich. Nächstens mehr.