von Lukas Meschik
Pünktlich auf die Minute um 18:00 begrüßt Günter Vallaster die Besucher zum zweiten Tag der sechsten Poesiegalerie in den Räumlichkeiten der IG Autoren. Neben seiner Moderatorentätigkeit bei der gestrigen Podiumsdiskussion kuratierte er dieses Jahr zusammen mit Rhea Krčmářová auch die Ausstellung „Transmediale Poesiegalerie“ mit Werken von Peter Bosch, Kirstin Breitenfellner, Katia Sophia Ditzler, Marlene Gölz, Brigitta Höpler, Ilse Kilic, Rhea Krčmářová, Hanno Millesi, Laura Nußbaumer sowie Student*innen der Sprachkunst, deren Werke man bereits seit dem Eröffnungstag bewundern konnte. Neben Fotomontagen (Boschs „Abwesenheitsportraits“) und Postkarten finden sich darunter auch augenzwinkernde Collagen aus Nachrichten-Überschriften (Breitenfellner) oder ein an einem Fenster in der Luft schwebendes Gedicht aus mit der Nähmaschine gestickten schwarzen Wollbuchstaben (Krčmářová). Vor einem Rundgang durch die Ausstellung erlebt das Publikum jedoch eine musikalisch-literarische Performance. (Nebenbei sei erwähnt, dass das Festival auch am zweiten Tag hervorragend besucht ist, von Anfang an sind beinah alle bereitgestellten Plätze besetzt.)
Erwin Uhrmann und Karlheinz Essl liefern einen Einblick in ihr Projekt Coastlines, das man sich als eine Art Jazzkonzert zwischen einem Literaten und einem Synthesizer-Spieler vorstellen kann. Die bereits seit einigen Jahren kooperierenden Künstler generieren in Echtzeit eine akustische Landschaft aus Poesie und Sound. Romancier und Lyriker Uhrmann liest atmosphärisch dichte Passagen; starke Bilder eines übermächtigen Meeres, von zerklüfteten Küstenstreifen und anbrandendem Salz nehmen Form an. Essl reagiert auf diese lyrischen Sequenzen live mit Tönen seines Synthesizers und liefert damit den kongenialen Soundtrack zu einem Film, der beim Zuhören im Kopf entsteht. Großes – melancholisches – Kino.
Nach dieser gelungenen Ouvertüre lädt Kurator Günter Vallaster zu einem Rundgang durch den Hauptraum der IG Architektur und gibt den Besuchern eine kurze Einführung zu den ausgestellten Werken. Für viele Autorinnen und Autoren im Umfeld der Poesiegalerie gehört der Ausdruck in anderen Sparten als der Literatur schon lange zum kreativen Alltag. Gemeinsam haben die meisten hier versammelten Arbeiten eine angenehme Selbstironie, einen verspielten Umgang mit Text als formbares Material, der eine Bildlichkeit und Haptik erhält. Wiederkehrende Herangehensweise ist das Collagieren, also die Rekombination von Textschnipseln, die im neuen Kontext einen oft überraschenden neuen Sinn erhalten.
Es folgt eine zweite Performance. Laura Nußbaumer (Pronomen they/them, dey/denen) und Erika Kronabitter lesen Gedichte – allerdings nicht auf herkömmliche Weise, sondern phasenweise parallel, sich ins Wort fallend, bewusst überlappend.
Kronabitters Lyrikband einen herzschlag nur bist du entfernt dient als Grundlage für sogenannte Blackout Poetry, wie Nußbaumer das von ihr entwickelte Verfahren treffend nennt. Durch Übermalen einzelner Buchstaben und Zeilen kommen aus den ursprünglichen Gedichten andere hervor. Der Titel HERZ, SAG NUR ENTE erklärt sich also als Überbleibsel nach Streichung einzelner Buchstaben des Originals. Während der akustischen Gegenüberstellung der Gedichtvarianten sehen wir im Hintergrund eine visuelle an die Wand projiziert – den in Etappen stattfindenden Prozess des Übermalens mit schwarzem Stift. Komplettiert werden die jeweils neu entstandenen Gedichte mit thematisch passenden Zeichnungen.
Pause
Um 19:00 eröffnet Xaver Bayer den „klassischen“ Lesungsblock mit Ausschnitten aus seinem bei Jung und Jung erschienenen Gedichtband Poesie – für den renommierten Autor von Prosa und Romanen der allererste Lyrikband, sozusagen ein spätes Debüt. Bayer selbst bezeichnet seine Texte kokett als „misslungene Gedichte“, für die ihm der Begriff „Vignetten“ passender erscheine.
Es sind auch sehr erzählende, wie dichte Prosaminiaturen anmutende Texte, die allesamt ein klares Narrativ haben. Dabei bleibt Bayer der wiedererkennbaren Bildsprache seiner Prosa treu. Er erweist sich als genauer Beobachter des Abseitigen und Unerwarteten, der subtilen Verstörung im urbanen Alltag. Vor dem geistigen Auge entstehen Bilder von trostlosen Spielplätzen und mitten in der Stadt kämpfenden Wildkatzen. Diese Poesie ist uneitel, unkitschig, nirgendwo ein Funken Selbstbespiegelung oder ermüdende Gefühligkeit. In Bayers kompakter, bedrohlich nüchterner Sprache wird das Vertraute seltsam fremd. Geheimnisvolle Beschreibungsgedichte, wenn man so will.
Weiter geht es mit Waltraud Haas und ihrem bei Klever erschienenen Band pfeilschnell wie kolibris. Ihre kompakten Gedichte brauchen oft nur ein paar wenige hingestreute Zeilen, die intime Momente und Szenen zurückgenommener Emotionalität erzeugen, auch der eine oder andere Haiku ist darunter.
„pfeilschnell wie kolibris / flitzen die gedanken / durch raum und zeit“ – so das titelgebende Gedicht in seiner Gesamtheit, welches Haas ebenfalls liest. Manche der vorgetragenen Texte sind Kollegen wie Gustav Ernst, Günther Kaip oder Erich Kästner gewidmet. Es ist auch die Auseinandersetzung einer humorvollen Dichterin mit der eigenen Vergänglichkeit, die augenzwinkernd androht, noch „auf der Himmelsleiter“ ihre Gedichte „auf uns niederprasseln zu lassen“. Bis dahin wird sie weiterhin „Erinnerungen mit dem Schmetterlingsnetz fangen“. Haas erntet mit ihren melancholischen Beiträgen voller hintergründiger Ironie einige Lacher.
Ebenfalls bei Klever erschien der Lyrikband Am unfrisierten Rand des deutschen Schriftstellers Eberhard Häfner. 1941 geboren blickt er auf ein Gesamtwerk von etwa zwei Dutzend Veröffentlichungen zurück. In seinen oft bissig formulierten Gedichten wirft Häfner einen kritischen Blick auf Welt und Umwelt.
Ein lyrisches Ich durchstreift als „letzter Gallier“ eine von Gentrifizierung bedrängten Welt, der Herrschaft von Algorithmen möchte es sich entziehen. Als Verballhornung des alten Kinderlieds „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ hören wir von drei Chinesen, die „Reisschnaps on the rocks“ trinken, dann wieder „steht am wilden Hang der Mond“. Im Herzen ist und bleibt das sprachdurchdrungene Ich also bei allem Widerständigen ein Romantiker – die ungebrochene Kraft der Natur legt es nahe.
Pause
Um 20:00 (die Pünktlichkeit wird beibehalten) liest Ferdinand Schmatz aus seinem 2022 bei Haymon erschienenen Band Strand der Verse Lauf. Darin erweist er sich als begnadeter Sprachspieler, seine Gedichte drehen sich um Meer, Wind und Strand, was inhaltlich einen schönen Bogen zur vorangegangen Performance Coastlines von Uhrmann und Essl spannt.
Schmatz findet frische Bilder für detailliert beschriebene und bebilderte Körpererfahrung. „ein wonnen unter der sonne, ich weiss: / nichts, neues: verweile anders geerdet, / lösend vom wort hin zum bild, / das mich treibt über die düne auf die dünen“, heißt es da, und als Zuhörer in einem frühwinterlichen Wien Anfang November kann man nicht verhehlen, sich insgeheim in Fernweh an diesem Sonnenort der Dünen zu imaginieren.
Fortgesetzt wird der (weiterhin voll besuchte) Abend von Franz Josef Czernin mit einer Lesung aus geliehene zungen, das bei Hanser erschienen ist. Der Autor hofft, wie er in sympathisch unprätentiöser Manier sagt, durch das Lesen seine eigene Lyrik selbst besser zu verstehen.
Hinter prägnanten Gedichttiteln wie „drama“, „lavant“, „gothic“ oder „pascal“ verbergen sich kurze, durchgehend in Kleinschrift gehaltene Einlassungen zum Zeitgeschehen und nachdenkliche Betrachtungen. Czernin bleibt vieldeutig, manchmal kalauernd, immer zeitgenössisch-experimentell. Erhellende Lyrik, die nicht immer um Klarheit bemüht ist, bei der einem aber in jedem Fall stets ein Licht aufgeht.
Pause
Cornelia Travnicek tanzt als Autorin seit jeher auf mehreren Hochzeiten, so zählen neben Romanen und Erzählungen für Erwachsene auch Kinderbücher und eben Lyrik zu ihrem umfangreichen Œuvre. Ihr aktueller Gedichtband namens Assu. Aus Reisen erschien 2023 im Innsbrucker Limbus Verlag.
Darin nimmt sie die Leserschaft – wie der Name schon sagt –, auf Reisen mit, etwa in die Ukraine, ans Schwarzmeerdelta oder ins iranische Isfahan. Vorangestellt sind jedem Gedicht exakte Koordinatenangaben, was dieses somit nicht nur poetisch verortet. Neben kleinen Alltagsbetrachtungen zu unterwegs kredenzter Nahrung oder Naturbeschreibungen verdüstert sich manchmal das Bild, was ja allein schon das aufmerksame Wahrnehmen der Weltlage bedingt. „Stell dir vor, es ist Krieg / Und jeder fährt hin“, dichtet Travnicek etwa als Remix des berühmten Bonmots von Bertold Brecht. Fragt sich nur, ob wir es uns überhaupt vorstellen müssen – oder es in den Nachrichten sehen.
Anschließend liest Peter Pessl aus Ah, das Gasthaus der Wilderness! – Prosagedichte, erschienen beim in Klagenfurt ansässigen Ritter Verlag. (Der Autor dieser Zeilen durfte es für die Poesiegalerie bereits rezensieren.) Pessl selbst spricht zur Einleitung von „Ensemblegedichten“, die mehrheitlich zusammenhängen würden.
Seine hermetische Avantgardedichtung mit Wiederholungsschleifen und teils verstümmelten Dialogfetzen gewinnt durch den Vortrag, da man im Hören der von ihm gesetzten Pausen und Zäsuren einen anderen Rhythmus als beim eigenständigen Lesen erhält. Pessls eigensinnige Arbeiten lassen sich am ehesten als von Wirklichkeitssplittern durchzogene Naturbetrachtungen beschreiben. Trotz vorgerückter Stunde, nach knapp hundertachtzig Minuten dichtem Programm, lauscht das Publikum den anspruchsvollen Texten mit höchster Konzentration: Sitzfleisch und Durchhaltevermögen der Poesiegalerie-Besucher sind längst legendär – die vorgetragenen Inhalte sind ja aber auch höchster lyrischer Genuss.
Pause
Pünktlichst um 21:15 präsentiert Ralf B. Korte einen Text, der in einer kommenden Ausgabe der Literaturzeitschrift „perspektive“ erscheinen wird. Gemeinsam mit Stefan Schmitzer (ein für Poesiegalerie-Kenner vertrauter Name) ist er Herausgeber der in Graz und Berlin entstehenden Zeitschrift, jährlich erscheinen vier Hefte.
In seinem lyrischen Prosatext behandelt er das Unglück von Kaprun, wo im Jahr 2000 bei einem Brand der Gletscherbahn 155 Menschen ums Leben kamen. Er konterkariert technisch-analytische Formulierungen zu Lüftungsschächten und entzündlichen Flüssigkeitsgemischen mit eingewobenen Zitaten und englischsprachigen Songtexten.
Auch die 2004 geborene Alba Cruz – und damit jüngste Teilnehmerin der diesjährigen Poesiegalerie – liest einen Text aus der kommenden Ausgabe von perspektive, für die sie seit einiger Zeit eine Gedicht-Kolumne schreibt. In gekonnt-leichtfüßiger Weise setzt sie sich mit Ausgeh-Abenden und Liebesgeplänkel auseinander.
Cruz gelingt ein wacher, lebensbejahender Ton, den man einer von multiplen Krisen gebeutelten Jugend literarisch gar nicht zutrauen mag, dem es trotzdem nicht an wacher Tiefe mangelt. Da wird bei Jamsessions auf E-Gitarren improvisiert und über David Bowies „Blitz auf der Stirn“ gefachsimpelt, da wird wenig geschlafen, ein „Workout“ eingeplant und hin und wieder „Juhu“ gesagt. Das weckt um Viertel vor zehn die Lebensgeister.
„Verstehen werden Sie mich sowieso nicht, aber hören!“, sagt Kalle Aldis Laar beim Einrichten der Mikrofone. Gemeinsam mit Astrid Nischkauer ist er Übersetzer und Herausgeber von Mir war, als ob es klopfte, einer bei parasitenpresse veröffentlichten Anthologie mit neuen Gedichten aus Lettland.
Es verstehen nach Publikumsbefragung mit Handzeichen immerhin zweieinhalb Personen die von Laar auf Lettisch vorgetragenen Gedichte, Nischkauer liefert jeweils im Anschluss die Übersetzung. Doch auch als Sound ist das Lettische ein Erlebnis, das für ungeübte Ohren wie eine ulkige Verniedlichungsform des Elbischen klingt. Wir hören von trostlosen Kindheiten, schneebedeckten Algen und zu Papierschiffen gefalteten Tagen. Alles sehr lettisch. Nach absolvierter Lesung erlaubt sich Laar einige Betrachtungen zur lettischen Sprache – und darf dabei ausnahmsweise ein bisschen überziehen.
Pause
Mit leichter Verspätung wird um 22:30 der letzte Akt dieses so langen wie schönen Abends der lyrischen Begegnung eingeläutet.
Als krönenden Abschluss präsentieren Anne Bennent und Otto Lechner anlässlich des 50. Todestags von Ingeborg Bachmann ihr Programm Sag dem Festland, dass die Krater nicht ruhen, eine Hommage an die in Kärnten geborene und aufgewachsene Weltliteratin.
Bennents konzentrierter Vortrag des Prosatexts Ein Geschäft mit Träumen zieht die gebannte Aufmerksamkeit des in vollbesetzten Sitzreihen versammelten Publikums an sich. Mit Bennents Interpretation erhält Bachmanns welthaltige Literatur ihre würdige stimmliche Entsprechung. Lechner, der wohl renommierteste Akkordeonist Österreichs, antwortet mit beherzten Melodielinien – und inbrünstig intoniertem Gesang, angereichert mit rauem Vibrato. So beginnt ein fulminantes Wechselspiel zwischen Vortragender und Vollblutmusiker, das seinesgleichen sucht. Es folgen flammend das Lebensunglück und den heiligen Wahn feiernde Gedichte. Andächtiges Lauschen. Hier erlangt die abgenutzte Wendung, dass Texten allein durch Interpretation neues Leben eingehaucht wird, tatsächlich wieder Gültigkeit – ein besonderes Highlight dieses an Highlights so reichen Programms der Poesiegalerie. Zeit und Raum sind längst außer Kraft gesetzt, so dauert der Auftritt auch doppelt so lang wie eigentlich veranschlagt. Spätestens wenn Bennent den großen Bären anruft, als hätte man dieses wohl berühmteste von Bachmanns Gedichten eben zum allerersten Mal gehört, ist man sicher, dass hier, in den Räumlichkeiten der IG Architektur in Wien, für einige Stunden ein Mittelpunkt der Welt entstanden ist – jedenfalls der Lyrikwelt. Langanhaltender Applaus.