Achtzehn Uhr. Den dritten und letzten Abend der diesjährigen Poesiegalerie eröffnet Robert Schindel. Die Erwartung ist groß an seinen ersten Gedichtband seit zehn Jahren mit dem Titel Flussgang (Suhrkamp), den man sich als Geschenk Schindels an sich selbst zu seinem 80. Geburtstag im April 2024 imaginiert. Er liest mit der Lupe, beginnt mit einem Gedicht über ein Schneegestöber und den Wunsch des lyrischen Ichs, keine „Leute“ mehr zu sehen. Die Augen des lyrischen Ichs werden trüber, aber „in alter Haut fühlte ich mich splitterneu“. Vögel trösten es beim Wachwerden, und die umstehenden Weiden werden aufgefordert zu tanzen. „SS-Männer, gestorben in hohem Alter“ lassen Dunkles anklingen und erinnern daran, dass Schindels Eltern in Konzentrationslager deportiert, sein Vater dort ermordet wurde. Gut, dass Lyrik weiterlebt und von diesem Unrecht zeugen kann.
Die Gedichte, die der Autor liest, sind von Melancholie durchsetzt – „Irgendwie rauscht mich das Sterben an“, „Obdach ist nicht“. Trotzdem feiern sie immer noch das Leben. Das letzte Gedicht, das er liest, heißt „Die Wegstrecke“ und versöhnt sich mit dem Tod: „eine glatte Sache, die eigene Endlichkeit“, „von oben, von unten Gezwitscher“.
Als nächstes liest die Autorin, Feministin, Archivarin und Journalistin Katharina Riese aus ihrem Band Die gute Wurst aus Holz (Klever). „Was die Lyrik betrifft, bin ich eine Newcomerin, aber insgesamt bin ich eine Spätentwicklerin“, erklärt die Autorin, Jahrgang 1946, zu Beginn.
Auf der parallel stattfindenden Messe Buch Wien war ihr Werk am Stand der poesiegalerie ein „Hingreifer“ – aufgrund der in der Lyrik unterbelichteten „Wurst“? Auch ein Podium Porträt (Nr. 124) ist Katharina Riese gewidmet, aus dem sie ebenfalls liest. „Die Religionen kommen zurück“ ist ein mehrteiliges Gedicht, worin sich Riese nicht nur religionskritisch, sondern auch frauenkämpferisch zeigt. Die Aussagen von renommierten Autoren und Autorinnen werden mit jener der Haushaltshilfe der Familie Kafka in Prag konterkariert. Aus Die gute Wurst aus Holz liest die Autorin über den Frühling, wo sie ihre Blase im Wald erleichtert. Dabei bleibt sie „in gleichbleibendem Abstand zur Welt, gleich nah, gleich fern“. Ein schönes Bild für die Lyrik selbst.
Christian Zillner hatte zuerst Theologie und dann Philosophie studiert, er ist Zeitschriftenmacher im Falter Verlag und war schon länger als bildender Künstler hervorgetreten, bevor er mit Gedichten und Poemen ein neues Terrain eroberte.
Sein sechsbändiges Versepos Spiegelfeld (2004–2009, Dornröschen Verlag) über die Geschichte Österreichs am Beispiel der Familie Matz von Spiegelfeld beginnt im 10. Jahrhundert und zieht sich bis in die Gegenwart. Auch der Titel seines neuen Gedichtbands Brot und Speer (Limbus) lässt qua der darin erwähnten Waffe an das Mittelalter denken. Zillner liest mit dunklem, man möchte sagen raunendem Timbre. Und geht noch weiter zurück, bis zu Isaak und Abraham und in die griechische Antike und zum Zelt des Achilles. „Im Zorn, dem Bruder der Wut, beginnt Europa zu wachsen.“ Dazwischen führt es ihn auch in die Vorarlberger Heimat zurück – „Weit gespreizt häkeln die Äste am Pflaumenbaum“ – und zu deren Speisen: Riebel und Ziegenmilch, Gerstensuppe und Kraut, „steinhartes Fleisch, kaum zu derbeißen“: „Was wir brauchen, kommt aus Ziegen, den Gärten und der Mühlsal.“
Auch Angelika Rainer wird von Moderator Udo Kawasser als eine der nicht wenigen Mehrfachbegabungen unter den Dichterinnen und Dichtern vorgestellt.
Bei Franui spielt sie Harfe, Zither und singt. Sie hat auch lyrische Prosa verfasst. Heute liest sie Gedichte und Prosaminiaturen mit titelgebenden Paarhufern: Zweckbau für Ziegen (Haymon). Der poetisch klingende Begriff existiert wirklich.
Rainer hat ihn von dem Schweizer Architekten Gion A. Caminada entlehnt, der einen solchen tatsächlich entworfen und gebaut hat. In Prosa erklärt sie diesen praktischen Unterschlupf, der zu einem idyllischen Ort werden könne als Schutz vor der Natur und einen sicheren Blick auf das freie Feld erlaube. „Eine Behausung ermöglicht es, sich im Stillen aufzuhalten.“ Das gilt auch für Ziegen. Aber eine Behausung lässt sich auch mit Worten errichten. Das tut Rainer in ihren Gedichten, die von der Natur handeln. „Wurzelabschnitte der Zaunwinde“ und die heilende Wirkung von Kohl im Allgemeinen spielen da eine Rolle oder die alle sieben Jahren blühenden Lärchen. Oder war das jetzt doch Prosa? Wie bei vielen Dichterinnen – etwa dem gestern aufgetretenen Michael Stavarič – ist der Übergang zwischen diesen Genres fließend. Ob Lyrik oder Prosa oder beides: Dichtung ist es allemal. Aber bei dieser Poesiegalerie ist der Zug zur lyrischen Prosa stärker als in den letzten Jahren spürbar, wie Udo Kawasser am Schluss des Abends bemerken wird.
Gestern huldigte die Poesiegalerie der vor 50 Jahren verstorbenen Kärntner Dichterin Ingeborg Bachmann mit einem Programm von Anne Bennent (Stimme) und Otto Lechner (Akkordeon und Gesang). Kirstin Breitenfellner addiert zu dieser eine kurze Hommage an die zweite große Kärntner Dichterin, Christine Lavant (geboren 1915), deren 50. Todestag am 7. Juni im medialen Getöse um die Literartur-Diva Bachmann ins Hintertreffen geriet.
Breitenfellner stellt drei Neuerscheinungen vor (Christine Lavant: Seit heute, aber für immer. Gedichte. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Jenny Erpenbeck; Christine Lavant: Ich bin maßlos in allem. Biographisches. Ausgewählt und kommentiert von Klaus Amann (beide bei Wallstein), Jenny Erpenbeck: Über Christine Lavant. Kiepenheuer & Witsch).
Anschließend liest sie zwei Gedichte aus der Lavant-Gesamtausgabe im Wallstein-Verlag: Das erste aus dem Band zu Lebzeiten veröffentlichter und das letzte aus dem Band mit Gedichten aus dem Nachlass.
Yevgeniy Breyger wurde 1989 in Charkiw geboren, mit zehn Jahren zog er mit seiner Familie als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Vor wenigen Monaten übersiedelte er nach Wien, „vor allem, um Preise einzusammeln“, unkt Moderator Kawasser, denn 2023 erhielt Breyger den manuskripte-Preis, den Christine-Lavant-Preis und den Mondseer Lyrikpreis.
Sein insgesamt vierter Gedichtband Frieden ohne Krieg ist sein drittes Buch bei kookbooks. Zu Beginn erzählt der Autor, dass er kurz vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine ein Buch fertiggestellt hatte, das er danach „in die Mülltonne“ werfen musste, weil es die neue Realität nicht berücksichtigen konnte, hinter die kein ukrainischer oder russischer Dichter ab da mehr zurückkonnte. (Auch die russische Dichterin Maria Stepanova erkannte schmerzlich, wie sie in einem Interview erzählte, dass sie nun keine Dichterin mehr sei, sondern nur noch als russische Dichterin wahrgenommen werden würde.) „Ich musste mich noch nie bei so vielen Menschen entschuldigen“, beginnt Breyger die konzentrierte Lesung. Der Grund: Die Politik hat die Literatur gekapert. Breyger wird diesem Zwang, dieser Unterwerfung gerecht, indem er sich aufrichtet und dichtet. Indem er der rohen Gewalt die Differenziertheit und Ambiguität literarischer Sprache, dem Tod, den der Krieg bringt, die Lebendigkeit von Metaphern entgegensetzt. „Grünes Idylle, in die der Terror einfällt“. Der Ernst der Weltlage ist in die Gesichter des Publikums eingeschrieben.
Ilse Kilic hat ein akkordeonartiges indisches Instrument namens Shrutibox mitgebracht, das macht einen kleinen Umbau notwendig. Sie begleitet die „umtriebige“ (O-Ton Kawasser) Eva Schörkhuber: Autorin, Dozentin, Radiomacherin und Journalistin. Ihr neues Buch erschien in dem von Ilse Kilic und Fritz Widhalm herausgegebenen Verlag Das fröhliche Wohnzimmer.
Kilic, auf vielen Kanälen und multimedial unterwegs, firmiert derzeit auch als Vorsitzende der Grazer Autoren Autorinnen Versammlung. Sie liest zu Anfang ein eigenes Gedicht über den Kreislauf des Lebendigen. „Der Kompost spricht als zukünftiger Wald. Der Wald spricht als zukünftiger Kompost.“ „Ich hänge an dieser Welt“, beginnt Schörkhuber ihr mit kraftvoller Stimme vorgetragenes lyrisches Bekenntnis. Die Gedichte stammen aus den Wohnzimmer-Anthologien Mich wundert, dass ich fröhlich bin und Warum?. „Auch wenn ich nicht immer eins bin mit der Welt, löse ich mich doch nicht von ihr. Das ist kein Verbrechen.“ Sie springt über ihren Schatten, aber der Schatten im Schlepptau wird länger und länger. „Das Warum“ treibt Schörkhuber um, eine Autorin, die den Gegebenheiten, je verstörender sie werden, desto kompromissloser auf den Grund zu gehen gewillt ist. Quieksend geht dazu die Shrutibox auf und zu, auf und zu, konzentriert bedient von Ilse Kilic. Die Dringlichkeit von Schörkhubers Lyrik springt über. Gebannte Aufmerksamkeit. Ilse Kilic schließt mit einer „Liebeserklärung an den Wald“ ab. Erlöstes Klatschen.
Verspätung hat sich eingeschlichen. Die Pause wird verkürzt. „Es geht gleich wieder los“, sagt Saalwart Titus ins Mikrofon.
Gisbert Amm lebt in Joachimstal nordöstlich von Berlin und hat außer Dichtung schon alle möglichen Berufe ausgeübt. Er leitete das Lyrikhaus Schorfheide – und spricht zu Beginn ein dickes Lob für die Poesiegalerie aus, auf die Wien stolz sein könne. Sein Band Semper erschien bei fabrik.transit.
Die leichtfüßige, humorvolle Poesie von Gisbert Amm setzt sich mit dem zeitgenössischen Alltag auseinander, Paketzustellungen und sockenfressenden Waschmaschinen, die auch zu Sorgenfressern mutieren können. Aber auch die Realität seiner Kindheit kommt vor. „Die Toten spielen mir Wish you were here vor auf ihrem alten Kassettenrekorder.“ Das übermütige Gedicht „Urlike“ spielt mit Vertippern. „Ulrike schreibe ich immer falsch.“ Gisbert liest darin das „Ur-Like“ und also den Beginn der Daumenhochkultur. Und die URL ist darin natürlich auch verborgen. Ein anderes Gedicht verfolgt ein Paket auf dem Weg zum Empfänger – bis es „schließlich aus dem Blick gerät“. So macht Lyrik Spaß. „Heute unterschreib ich Petitionen, und werde mich dabei nicht schonen“. „Das ändert alles für Äonen.“ Natürlich glauben das weder der Autor noch das erheiterte Publikum.
Katrin Köhler wurde von der Zeitschrift manuskripte zur Poesiegalerie eingeladen. Sie kam 1987 in Ivano-Frankivsk in der Ukraine auf die Welt, wuchs in Schwedt/Oder auf und lebt in Hamburg. Die vielfach prämierte Autorin deckt zahlreiche Genres ab. Heute liest sie naturgemäß Lyrik.
Darin geht um die Selbstvergewisserung des Ichs, die Johannisbeersträucher im Garten und den kommenden Winter, in dem nicht nur die Nacktschnecken, sondern auch das lyrische Ich einfrieren werden. Was harmlos klingt, hat einen doppelten Boden. „Die Johannisbeersträucher sind wie der Richter“, öffnet sich dieser und lässt an Herta Müller denken, der Königin der einfachen und doch wuchtigen Metaphern für das System der politischen Unterdrückung. Bei Köhler hat der Koffer an der Innenseite zwei Türen. Bevor das Ich sie öffnen kann, ist das eisblaue Wasser dahinter und davor und schließlich auch der Koffer selbst: verschwunden. „Angst war da, aber niemand hatte sie.“ Das Unheimliche ist das Unvertraute im Vertrauten, Köhler weiß es mit einer unschuldigen Nonchalance zu beschwören, die nicht herunterzieht, weil sie schwebt und die Zuhörer mit sich fortträgt.
Thomas Ballhausen, Schriftsteller, Literatur- und Filmwissenschaftler, Hochschullehrer, Herausgeber und Übersetzer, ist wie viele der hier vertretenen Autoren ein Multitalent. Er schreibt nicht nur Lyrik, Prosa und Essays, sondern auch Comics. Bei Keiper erschien sein Gedichtband Unter elektrischen Monden.
„Auch dieser Text ist eine Maschine. Fährt Zeile für Zeile hoch“, beginnt sein rhythmischer Vortrag. „Die Schaltkreise der Hölle sind uns bekannt“ – aber hier auf Erden ist die Realität wenig sicher und stabil. Der Autor erkundet sie skeptisch, tastend. „Halte mich nördlich. Kann das Ende der Welt fast schon sehen.“ Alles ist ernst. Aber: „Alles und alles könnte auch Spielzeug sein.“ Die „Zeichen“ zwingen das lyrische Ich zu Boden. Es hebt sie auf und formt daraus Lyrik: den Stoff, der aus Verzweiflung gebraut ist und uns gerade deswegen das Leben aushalten lässt.
Große Pause. Frische Luft.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 warf sie aus der Bahn. Sie verlor all ihre in das Dichten gesetzte Hoffnung, ja ihr Konzept – und stürzte in eine tiefe Trauer. Dass sie sich dafür in ihrem Bekanntenkreis rechtfertigen musste, als ob sie an einem emotionalen oder intellektuellen Defekt litte, empfand sie als „Frechheit“. In einem luziden Essay am Ende ihres neuen Buches gibt sie sich Rechenschaft darüber, warum. Mit den 206 Haikus von Es beginnt der Tag. Trauerrefrain erobert sich Utler, trotzig und tastend, das Schreiben zurück. Dichten als eine Überlebensstrategie. Die Haikus fangen fast alle mit der Formel „Es beginnt der Tag“ an und sind auf Karteikarten notiert, die hier auch auf dem Tisch liegen. Utler meint jetzt, sie wisse natürlich, dass es neun Wiener Jahre waren, doch die vielen Aufenthalte seither… und beginnt zu lesen, Karte um Karte beiseitelegend, eine Litanei, sanft, eindringlich, langsam schneller werdend und dann wieder retardierend, manchmal flüsternd, beinahe hauchend.
Das anschließende Gespräch eröffnet Kawasser mit dem Hinweis, dass Utlers Essay in Schulen und einer breiten Öffentlichkeit diskutiert werden solle. „Das finde ich auch“, gesteht Utler entwaffnend ehrlich. Warum sie dem Band einen Essay beigefügt habe, will Kawasser wissen. „Waren die Haikus nicht genug?“ Utler erklärt: „Ich bin so“. Sie habe eben auch ein analytisches Bedürfnis. In dem Essay sei es ihr wichtig gewesen, zwischen Depression – die ihr von Bekannten zugeschrieben wurde – und Trauer zu unterscheiden, einer aktiven Bezugnahme auf die Welt. Ja, sie trauere, obwohl sie ja von diesem Krieg nicht direkt betroffen sei, darauf beharrt Utler. Ihr Essay stelle auch einen Versuch dar, eine Gesprächskultur zurückzuerobern, in der sich alle einbringen können, nicht nur die, die am meisten leiden (oder zu leiden vorgeben), eine Gesprächskultur, in der es nicht um einen Wettbewerb an moralischer Überlegenheit gehe. Zumindest in dem Gespräch mit Kawasser, dem das Publikum gebannt lauscht und das naturgemäß zu kurz ist, geht dieser Wunsch auf.
Mit Eva Lugbauer tritt anschließend die einzige Dialektdichterin der diesjährigen poesiegalerie auf.
Ihre Gedichte faschaun farena fagee (Literaturedition NÖ) sind auch als CD erhältlich, vertont von den Musikerinnen Anna Großberger und Viktoria Hofmarcher alias „zoat“ (Volkskultur Niederösterreich). Die CD steht vorne auf dem Notenständer, wo sonst die Bücher präsentiert werden. Heute gebe es aber eine Lesung ohne Musik, sagt die Autorin.
Da Dialekt keine normierte Schreibweise kennt, sieht sich die Protokollantin kaum in der Lage, hier mitzuschreiben, aber es geht um ein Kaffeehaus, in dem geraucht („poföht“) und Schlittschuh gefahren wird, um eine Beziehung, in der es funkt und wegen der dann ein Zug versäumt wird und ein lebenslanges Drama startet. Der erste Teil, „faschaun“, sei der rosarote Teil, erklärt die Autorin auf Hochdeutsch. Im zweiten, „farena“, werde es schwarz. Lugbauer imitiert hier die Gerüchtestreuer und Neider der Provinz, die Leute „ausrichten“ mit der Formel „Schau, wia …“. Ein Tanz mit dem Teufel. In dem Dialekt, mit dem Lugbauer dem Volk auf das eigene Maul schaut, klingen die lobenden Worte schön und die missgünstigen noch schiacher. Sie decouvrieren mit Frikativen und geschlossenen Vokalen ihre eigene Boshaftigkeit und ermöglichen es Lugbauer, gnadenlos menschliche Abgründe zu öffnen.
Sandra Hubinger hat in der Edition Keiper bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht, 2019 wir gehen, 2022 Von Krähen und Nüssen. Kurzprosa, aus dem sie heute liest. Es sind rund einhundert poetische Prosastücke verschiedener Länge, vom Einsätzer bis zum Vierseiter.
Alle zeichnet ein genauer poetischer Blick, ein lakonischer Witz und die Lust am Absurden aus. „Ich brachte Gegenstände zusammen, die sich noch nie zuvor begegnet waren“, beginnt ein Text. Hier gibt es Tulpen, Panzernashörner, einen Streit, bei dem ein Glas kaputt geht. „Ich schnitt mich nicht an dem Glas, ich schnitt mich an den Worten, die zuvor gefallen waren.“ Das lyrische Ich tritt als Ei auf, das seinen Schalenbruch verleugnet. Zwei Krähen hören ein Schlaflied, das die Straße singt. „Der Schlaf wandelte unter den Wachen und verwandelte sie.“ Schlafwandlerische, wache Texte.
Elisa Asenbaum ist Autorin, bildende Künstlerin und Kuratorin, Mitgründerin des Kunstprojektraumes G.A.S-station Berlin – Tankstelle für Kunst und Impuls und arbeitet multimedial. Ihr Band Interirdisch (fabrik.transit) besteht aus drei Strängen, die ein Wechselspiel zwischen Literarischem, Wissenschaftlichem und Künstlerischem kreieren. Als Erste der diesjährigen poesiegalerie nimmt Asenbaum nicht hinter dem kleinen Holztischchen Platz, sondern liest stehend. Das Weltall, für dessen Expansion es noch keine Begründung gibt, gibt den Paten zu einem Gedicht über Lichtjahre und die lichterlose Dunkelheit, in dem auch wissenschaftliche Begriffe wie „entropisch“ Platz haben und sich zum Schluss die Wörter in Buchstaben auflösen. Dann geht Asenbaum zur Entstehung des Lebens zurück, zur Zelle. Dazwischen streut sie Basisinformationen Biologie, zum Beispiel über die Mitochondrien, und stellt damit sicher, dass das Publikum das nächste Gedicht versteht. Lyrik und Aufklärung schließen sich nicht aus! Den Höhepunkt bildet ein performatives Gedicht mit den beiden Dichter-Kolleginnen Eleonore Weber und Lorena Pircher (zusammen sind sie das Trio THE TONGUES): ein Kanon, der Sätze über Schuhe, Schritte und Modelle rekombiniert und so deren Sinn verkehrt. Ein erheiterndes Verwirrspiel.
Es ist bereits 23 Uhr. Der Abend geht dem Ende zu. Die letzte Aufmerksamkeit wird gebündelt.
Jonathan Perry, Jahrgang 1993 und damit einer der jüngeren Lesenden der Poesiegalerie, trägt mit sonorer Stimme aus seinem Band Auf der Flucht (Sisyphus) vor. „Es sind nur Versuche“, versucht er die Erwartungen des Publikums herunterzuschrauben.
Die Familie, die unmittelbare Umgebung (Perry lebt in St. Pölten) sind der Stoff, aus dem diese Betrachtungen und Impressionen gemacht sind. „Aufgewacht, setzt es sich aufs Geschenkpapier und grinst, das Töchterchen.“ Danach zückt er ein Typoskript. „Ich habe den Text noch nicht veröffentlicht“, gesteht er, „deswegen fühle ich mich noch ein bisschen verbundener damit.“ Es stimmt schon. Indem man Texte in die Welt hinausschickt, verliert man auch die Kontrolle über sie. Aber ohne den Mut dazu würde es keine Lyrik geben. Sondern nur Privataufzeichnungen in Schubladen.
An die dreißig Zuhörerinnen und Zuhörer haben bis jetzt ausgeharrt. Sie warten nicht nur auf die abschließende Bücherverlosung, sondern auch auf Sabine Dengscherz, Rhea Krčmářová und Birgit Selhofer. „Wer auf der Buchmesse eine Popup-Lesung schafft, schafft hier eine Wasserglasleseung locker“, scherzt Kawasser mit Bezug auf Dengscherz’ Auftritt bei den lärmumtosten Popup-Lesungen auf der Buch Wien. Dengscherz, Sprachwissenschaftlerin und Lektorin an der Universität Wien im Zentrum für Translationswissenschaft und Institut für Germanistik im Fachbereich Deutsch als Fremdsprache, liest aus in Zeitschriften und in Anthologien erschienenen Gedichten. Eines handelt davon, dass das an seinen eigenen Ansprüchen scheiternde Ich nicht genug an Leistung und Selbstoptimierung erbracht hat. „Genug jetzt!“, gebietet sich das Gedicht selbst und setzt trotzdem fort. Das Bändchen Die Welt ist ein Gedicht (Das fröhliche Wohnzimmer) stellt Dengscherz’ bislang einzige Einzelpublikation dar. Damit wagt die Autorin nichts Geringeres als einen Sonettenkranz – aber nicht bierernst, sondern mit einem Augenzwinkern. „Die Welt ist ein simultanistisches Gedicht“, lautet eine der ins anschließende Sonett herübergezogenen Zeilen, die eine perfekte abschließende Zusammenfassung von drei Tagen Lyrikmarathon abgeben könnte. Dengscherz hat aber noch einen „Retrotext“ im Talon, der sich auf die „old days round 1989“ bezieht und aus Songtexten komponiert ist. Nach diesem Rap, bei dem die Autorin von ihrem Mann unterstützt wird, lässt sich das ermüdete Publikum sogar zu Beifalls-Rufen hinreißen.
Den krönenden Abschluss des Abends gestalten die Social Media-Beauftragte der poesiegalerie, Autorin und transmediale Textkünstlerin Rhea Krčmářová und die Dirigentin Birgit Selhofer am Kontrabass mit der Performance Austrian Gothic – thematisch passend zu Krčmářovas Romandebüt Monstrosa (Kremayr & Scheriau), in dem sich essgestörte Patientinnen in einer Klinik im Wienerwald in Monster verwandeln. Der an die Wand projizierte Film bildet die Hässlichkeit der Provinz mit ihren Steinbrüchen, Eisenbahnlinien und Fabrikgebäuden ab, eine gruselige Welt. Den Text bevölkern die entführten, in Kellern eingesperrten Mädchen Niederösterreichs. Zur Melodie von „Theo, spann den Wagen an“ werden ironisch die landschaftsverschandelnden Windräder besungen, und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn Krčmářová ist ausgebildete Opernsängerin. Im Film neigen Sonnenblumen ihre Köpfe zu Boden. Krčmářová singt von Rost und Glyzerinnitrat. „Cisleithanian Gothic.“ Die Sprechstimme von Krčmářová erklingt nun aus dem Off, die real vor dem Publikum stehende Künstlerin pfeift, summt und singt. Beinahe hört man die Uhren zur Geisterstunde schlagen. Tatsächlich ist Mitternacht vorbei.
Zur abschließenden Bücherverlosung nach gibt es für jeden mindestens ein Buch oder eine Zeitschrift zu gewinnen. So kann die poesiegalerie mit nach Hause getragen werden.
Und auch das Poesiegalerie-Team freut sich weit nach Mitternacht über die gelungenen drei Tage voller Poesie. Von links nach rechts: Günter Vallaster, Laura Nußbaumer (Teilnehmerin), Kirstin Breitenfellner, Udo Kawasser, Rhea Krčmářová, Alexander Arbeiter