Petra Ganglbauer liest Thomas Ballhausens Unter elektrischen Monden
Wie eine nimmermüde, hochkomplexe Zeitzeugenschaft muten die Gedichte und Texte in diesem Band an, wobei die Zeit ein großes Spektrum menschlichen Ermessens umfasst. Es reicht weit zurück in die Vergangenheit – und wagt sich vor in eine ungewisse Zukunft. So etwa in dem Gedicht „Wo liegt Anzincourt“:
nach gefühlten hundert Jahren nichts mehr wissen als: Repetieren trotz Pfingstwunder keine geteilten Sprachen, nur schnellere Folgen von Zerfall
Die Gegenwart hingegen wird von Instabilität und Infragestellungen bestimmt. Unübersehbar, dass Thomas Ballhausen Kulturphilosoph ist.
Cover © edition keiper
Durchquerungen
Irritationen, das Disparate, eine massive Desorientiertheit stellen sich in diesen Texten ein, wiewohl es eine existenzielle Strategie zu geben scheint; nämlich jene, sich gänzlich von einer chronologischen, linearen Weltschau zu verabschieden und die Ereignisse, Fakten, Orte oder Erkenntnisse verschiedener Epochen und – mehr noch – deren mythologische, religiöse oder politische Stimmen einander durchqueren zu lassen. Ein beachtliches und zugleich diszipliniertes Unterfangen, in insgesamt sechs Kapitel aufgeteilt und mit formal wie inhaltlich zwar von der Grundidee her ähnlichem, jedoch im Detail differierendem Gestus.
Dergestalt sind die lyrischen Texte auch gebaut. Sie beanspruchen teilweise ganze Seiten oder sogar mehr, sind durch Einrückungen gekennzeichnet und transportieren auf diese Weise auch das Eruptive, Nicht-Definierbare, Inhomogene unsere Existenz. Dann wieder machen sie sich schmal oder geben sich Monologen gleich und schließlich beinahe essayistisch.
Fremdbestimmung
Im ersten Teil des Buches stehen die Beeinflussungen durch digitale manipulative Mechanismen oder datenbasierte Systeme und eine damit einhergehende Entfremdung massiv im Vordergrund der Auseinandersetzung; das angesprochene Du wie das lyrische Ich werden von diesen förmlich überlagert. In „Exoplanet, single ticket“ heißt es: „… fast schon spurlos / sind wir: // displaced“!
Das Körperliche, Irdisch-Gebundene kommt einer Verletzung gleich, wie in dem Gedicht „Mitternachtskino“:
es fehlt an Schuhwerk und Launen für dieses Ungelebte, alles so schmerzlich vermisst als käme es tatsächlich nur darauf an
Es herrscht Krieg im Innen und Außen, doch „die Stellungen sind verlassen und leer“.
Das lyrische Ich, manchmal etwas verdeutlicht, dann wieder, wie erwähnt, verdeckt, muss zur Kenntnis nehmen, dass die Vergangenheit wegbricht, bis das Werkl von neuem startet. Das Menschliche und das Künstliche interferieren, die Maschinen und die märchenhaften Gestalten: Alles wird zur gegenseitigen Durchquerung, nichts existiert unhinterfragt. Nichts ist vorhersehbar, nichts kompakt. Alles in Schwebe.
Größere Nähe
In Kapitel IV „Unter elektrischen Monden“, jenem Kapitel, nach dem das Buch benannt wurde, öffnet sich das Lyrische Ich spürbar und rückt deutlich näher, wie in den Gedichten „Wind“ resp. „Spur“:
was alles weggeworfen wurde, täglich trägst mich ab Löffel für Löffel, ein halbes Jahrzehnt lässt mich vergessen und vergraben der Schmerz soll bloß aufhören ist das nicht genug
wer besucht dich in meiner Abwesenheit Zigarettenstummel und zerwühlte Wäsche werden beinahe Schreibanlass, zurückgenommen
Zwischen Ratio und Beschwörung
Das Schreiben, der Schreibprozess fließen zusehends phänomenologisch in die Gedichte, die Texte ein. Thomas Ballhausens Lyrik agiert offensiv mittels eines großen, konzise reflektierten, poetischen wie analytischen Aktionsradius. Und es bleibt kaum ein globales, persönliches oder dystopisches Phänomen ausgespart. Das Buch beinhaltet, mehr noch verkörpert das Ineinander von allem, das Gegeneinander wie das Durcheinander, das Zeitgleiche und dennoch Disparate. Es hat Seltenheitswert, weil es jenseits des Poetischen auf einem scharfen und auch rationalen Blick auf die Wirklichkeit zurückzuführen ist.
Mehr und mehr schleichen sich jedoch auch Stimmen ein, die wie Warnungen, Beschwörungen, Appelle anmuten; in Form von Stakkatos, die an historische Stimmen wie den hellenistischen Traumdeuter Artemidor erinnern wollen. Diese Textstellen, die formal gänzlich anders als jene zu Beginn des Buches anmuten, sind trostspendende Zusprüche und Warnungen gleichermaßen.
Thomas Ballhausen leitet jedes Kapitel in dem Band durch ein Zitat ein. Jenes des letzten Kapitels (VI, „Karteikarten, in Unordnung“) lautet so:
"Die Dichtung steht nicht so sehr in einem Verhältnis zur Zeit, sondern zu einer Weltzeit“ Paul Celan: Theoretische Prosa
Und Weltzeit ist es, die die inhaltlichen und formalen Parameter dieses Lyrikbandes bestimmt.
Thomas Ballhausen: Unter elektrischen Monden. Mit einem Nachwort von Helwig Brunner. keiper lyrik: 29. edition keiper, Graz, 2023. 80 Seiten. Euro: 16,50,–