Lukas Meschik liest Li Mollets später
Auf den ersten Blick handelt es sich bei den in später versammelten Texten nicht um Lyrik. Es sind auch keine Gedichte im klassischen, im herkömmlichen Sinn, sondern streng genommen Prosaminiaturen. Diese aber sind so verdichtet, erzeugen eine so starke lyrische Kraft und damit einhergehend einen poetischen Sog, dass wir Li Mollets Band unbedingt an einem Ort wie der poesiegalerie beleuchten sollten. Die Lyrik ist ein weites Feld, und gerade Schreibende, die sich zwischen den Welten bewegen und zwischen die Stühle setzen, erzeugen oft die spannendsten Arbeiten, weil gewagte Mischformen aus der Einheitskost herausblitzen wie Kirschen im Schlamm.
Der Band ist streng gegliedert in 104 Abschnitte, jeder bekommt eine Seite und ist einheitlich aufgebaut. Zunächst ein jeweils gleich langer und im Layout gleich großer Prosablock, darunter leicht versetzt eine Nummerierung samt Notiz zur Schreibumgebung. Diese Notizen hängen zusammen und ergeben gebündelt einen Rundblick durch eine Wohn- und Wirkungsstätte.
Cover © Ritter Verlag
Wieder versetzt sehen wir abschließend eine blasser gedruckte Halbzeile, die einen letzten Kommentar gibt; gerade durch die grafische Gestaltung wirkt sie wie ein Wegdämmern, ein Herunterdimmen der Sprache bis zur Dunkelheit. So entstehen 104 Schnappschüsse, auch das Format der Prosaminiaturen erinnert an die Polaroids einer Sofortbildkamera. Zur Veranschaulichung hier eine solche Seite in ihrer Gesamtheit als Annäherung. (Die exakte Anordnung der einzelnen Teile und die verblassende letzte Zeile können nur schwer korrekt wiedergegeben werden.)
Am Boden der Schatten der Bücherbeige als wäre sie die Silhouette einer Häuser- reihe. Die rote Decke, die weichen Kis- sen im sonnigen Geviert. Dir alles und nichts sein, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Kannst du dich annehmen, wie du geworden bist. Was soll der Ärger über einen kleinen Fehler wiewohl mit gro- ßen Auswirkungen. Das Büro für inspirie- rende Umtriebe sucht Mitarbeitende im Sektor Alltagsverschönerung, sagst du. Ich schweige mich aus und schabe den Kartoffeln die Schale weg, vermen- ge sie mit Öl und feinen Nadeln vom Rosmarin. Glanz auf der Händehaut. neunzehn Leim, Klebstreifen und andere Kleinigkeiten alterslose Wörter rollen über den Rand
Worum geht es also in diesen Prosaminiaturen? Nun, wir geraten, wie man so schön sagt, vom Hundertsten ins Tausendste: Landschaftsbeschreibungen, aphoristische Wendungen, Aufgeschnapptes aus Gesprächen, Beobachtungen aller Art. Kurz gesagt: Ein lyrisches Ich nimmt wahr, beobachtet und beschreibt. Wichtiger zusätzlicher Bewohner dieser Wahrnehmungswelt ist ein wiederkehrendes lyrisches Du.
Beim Lesen entstehen im Kopf Bilder: ein Mensch, ein Partner, ein Mann, mit dem sich das Ich ein Refugium teilt? Es spielt keine Rolle, denn die eingefangenen Zeilen gehören nur sich selbst. Da ist vom Malen die Rede, von Farben, aber auch vom Schreiben. Vor dem geistigen Auge entsteht ein künstlerischer Ort, an dem kreative Arbeiten unterschiedlichster Art verrichtet werden. Von diesem Ort geht eine große Wärme aus, er schafft eine Atmosphäre friedlicher Angeregtheit.
Die Wörter und Sätze notieren. Ich fi- sche sie aus hellem Grau. Du lebtest in einer Zettelwohnung mit mehreren Hermes Baby. Dein Haar verdeckte bei- nahe das Gesicht, das Ohr drang zwi- schen die schwarz gefärbten Strähnen. … vierundvierzig
Eine „Hermes Baby“ ist übrigens – ich musste es googeln – das Modell einer Schreibmaschine. Sie fügt sich sehr gut ins heimelige, leicht romantische Gefüge einer künstlerischen Lebensgestaltung.
Bei Li Mollet ist jeder Satz bewusst platziert, jedes Wort und jede Silbe befinden sich exakt an der richtigen Stelle, ein Verfahren, das einem bei der Produktion höchste Konzentration abverlangt, bei der Lektüre aber umso leichter und schwebender daherkommt. Es sind ganz kurze, oft karge Sätze, mit denen operiert wird, alles Überflüssige ist ihnen abhandengekommen, die blumige Verzierung oder barocke Schleife sucht man vergeblich – und vermisst sie nicht.
In beinahe jeder der 104 Sequenzen finden sich markante, luzide Sätze, die für sich stehen, die in ihrem hintergründigen Wahrheitsgehalt direkt ins Mark treffen. „Lügen kann Leben retten, sage ich“ (zwölf); „Was können Männer und Frauen für den Ausdruck in ihrem Gesicht“ (dreiundfünfzig); „In der Kunst ist alles enthalten, auch wenn sie scheitert, sage ich. Sie kann großartig scheitern.“ (siebenundsiebzig); „Später ist nicht selten nie, sage ich.“ (achtundachtzig); „Es ist nicht hinnehmbar, dass jemand stirbt, den man liebt oder schätzt, sage ich, und lege meinen Kopf in beide Arme auf den Tisch.“ (einundneunzig)
Ein Bild ist immer mehr als eins, sage ich. Es schaut dich an, lenkt den Blick, bewegt das Denken, bis es Sätze fin- det. Dort ein unverschämtes Rot. Wel- che Farbe hat die Zeit. Was ermöglicht die Linie, die eine Bewegung sicht- bar macht. Da das Holz, sagst du und kommst in meine Nähe. Es wird mor- gen als Cello erwachen. … neunundneunzig
In später geschieht Sprachverdichtung auf höchstem Niveau, was wir erhalten, ist die Essenz, der Sirup. Das Banale, Profane steht innerhalb eines Schnappschusses manchmal direkt neben politischen Aussagen oder schöngeistigen Einlassungen – eines bedingt das andere. Der Alltag ist einerseits die Ressource, aus dem Kreative ihre Inspiration ziehen, und andererseits genau das, was vom Künstlerischen ablenkt. Vermeintliche Nebensächlichkeiten beginnen so zu leuchten. Mollet beweist eindrücklich: Das Poetische ist keine Frage der Wirklichkeit, sondern der Wahrnehmung, es ist keine Frage des Bildes, sondern eine Frage der Beschreibung. In später erhält das Poetische ein warmes Zuhause.
Li Mollet: später. Ritter Literatur 2023. 112 Seiten. Euro 19,-