Olivia Golde liest Angelika Rainers Zweckbau für Ziegen
Ich möchte dieser Besprechung eine Aussage, eine Selbstbeobachtung, voranstellen – auch in Verbindung mit meiner Rezension von Volha Hapeyevas Trapezherz, vielleicht als ein Jahresthema: Was Poesie mehr und mehr tut, in mir, ist Trost spenden. Lyrik als Salbe, nicht als Axt. Der innere Zustand kein gefrorenes Meer, sondern ein permanentes Wundsein am Zustand der Welt. Jede Auseinandersetzung mit dem täglichen Geschehen, also Radio, Zeitung, Gespräch, setzt Stich neben Stich – und ich öffne meine Lyrikbände, um Linderung zu finden. Eine Linderung, aus der ich Kraft ziehe für den nächsten Stich. Nur als Kreislauf bleibt dies lebendig, das ist ein Anspruch.
Vielleicht schreibe ich auch aus diesem Grund. Vielleicht schreibt Angelika Rainer aus ähnlichen Gründen. Ich habe mich getroffen gefühlt von ihren Texten. Nicht davon, worum es im Einzelnen geht, nicht vom Was, sondern vom Wie. Davon, wie die Texte funktionieren.
Damit die Stunde nicht ungeschehen verstreicht, arbeitet man ausgehend von nichts ins Nichts hinein. Ein Tag findet statt, es geschieht nichts Besonderes, aber etwas Eigenes, wenn es festgehalten wird. Es werden Ereignisse in verschiedenen Größen, Farben, Formen gesammelt. Nichts ist zu gering, alles ist gleich gültig, um ein schützendes Dach über dem Kopf zu schaffen. Ein Stein wird auf den anderen gesetzt, eine Zeile folgt auf die andere. Den Stunden wird ein Glanz verliehen, ein Stundenbüchlein entsteht. Langsam wird ein Leben zusammengetragen.
Das ist, in seiner Schlichtheit, die rührendste Poetik, die mir seit langem begegnet ist. Tragende Wände, nicht mehr als das, aber genau das. Eine Schutzhütte. Eine Dennoch-Hütte. Und so ist das Buch auch aufgebaut: Ein Vortext und ein Nachtext, Halterungen, Poetik, und dazwischen 60 Gedichte, 60 temporäre Zweckbauten, Unterstände, Anker, 60 Möglichkeiten zum Festhalten und Weitertun.
Cover © Haymon
Denn dass es manchmal nur darum geht, immer den nächsten Schritt tun zu können, den nächsten Tag zu überstehen – nicht die Welt zu retten (wie es in meinem Kopf zu oft hallt) –, das so geradeheraus sagen zu können und umzusetzen, ist eine Fähigkeit, vor der ich blank und staunend stehe.
60 Zweckbauten
60 ist eine große Zahl. Wenn man von etwas 60 hat, seien es Ziegen oder Gedichte, ist man eigentlich schon reich, oder? Nicht einmal das Alphabet hat so viele Buchstaben. Vieles, was mir da zwischen den Seiten begegnete, kannte ich nicht oder konnte ich nicht verstehen. Es war eigen. Und das hat mich nicht gestört. Es ruhte in seiner Form und Sprache; es war wie an seinen Platz gestellt. Es mag auch manches wie beiläufig erscheinen, oder – zumindest mir – beliebig, aber es gab immer ein Gefühl dahinter, Gefühle, die ich wiedererkannte. Eine stille Trauer, ein Staunen, eine bittere und doch mutwillige Anstrengung, anwesend zu bleiben. Ist es nicht das, was verbindet? Allen von uns geschehen verschiedene Dinge, in verschiedenen Sprachen, aber was sie in uns auslösen, worin sie uns prägen, darin ähneln sie einander. Vielleicht ist es ein Klang. Ich hatte das Gefühl, ich höre jemanden, und es wäre eine Melodie, auf die etwas in mir antwortet.
59 Beim Wiederhören des entsprechenden Liedes habe ich den Gedanken wiedergefunden wie einen verlorenen Schlüssel. Er lag an derselben Stelle der Melodie enthielt die Absicht uns weich zu betten und uns die Treue zu halten. Wenigstens so viel Treue nahmen wir uns vor: Schuster und Friseure nicht zu wechseln es sei denn sie verlassen selber ihre Wirkungsstätte.
Auch die Autorin selbst, 1971 geboren, scheint Verbindungen gern die Treue zu halten, bei Haymon erschienen bisher Luciferin (2008), Odradek (2012) und See’len (2018). Dies ist nun ihr vierter Band zusammen mit dem Verlag. Das Buch selbst ist auf eine schöne Art groß und offen, außen ein hellblauer Schutzumschlag, mit einer Grundrisszeichnung geschmückt, der Buchrücken darunter ist nachtblau mit Sternen. Es ist eine schöne Umsetzung, wie der Schutzumschlag die Schutzhütte nachbaut, damit die Texte nicht unter freiem Himmel ausharren müssen, sondern doppelt geborgen sind im Buch. Zwei Gedichte werden von einer Konstruktionszeichnung aus der architektonischen Formenlehre begleitet: der Bogen, der weiche Laib, die lichte Weite. Manche Gedichte arbeiten mit Zitaten, Westphal, Blanchot, Lavant, Eichendorff, Schubert, Williams, Foucault und andere werden genannt. Ein bisschen aus der Zeit gefallen, ein bisschen wie auf der Suche nach etwas Unversehrtem.
Kleine Rückkehr zum Anfang
12 In einem nach Norden ausgerichteten, sehr kalten Zimmer hörte ich den Kuckucksruf und wunderte mich dass er ein Mollintervall ist. Es stellte sich eine Erkenntnis ein sie hatte etwas mit meiner Herkunft mit einer Form von Scham zu tun. Tränen oder Schweiß stauten sich am Lidrand die Molldrüsen entzündeten sich ein Gerstenkorn klebte am Auge und das alles nur wegen eines Kuckucks. Seither ist viel Zeit vergangen. Ich habe die Erkenntnis vergessen doch habe ich gehört es wachse langsam, aber sicher wie das Weltall. Was es war, weiß ich nicht mehr. Dass das Weltall wächst habe ich staunend vernommen bestand es doch bisher vornehmlich aus erloschenen, nachglühenden Sternen wie die Erinnerung aus allerlei nachträglichen Gefühlen besteht da wir zersprängen würde alles auf einmal gedacht alles auf einmal gefühlt werden. So viel gefühlt so viel gedacht und alles vergessen.
Ich habe an dieser Besprechung im Oktober 2023 gearbeitet, während die Rachefeldzüge zwischen Israel und Gaza eskalierten und der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine anhält. Wien, von wo aus ich schreibe, ist weit weg davon – und sehr nah. Ich sitze hier und starre ins Nichts und scheitere fortlaufend an dem Bemühen, ein ungebrochenes Verhältnis zur Welt aufzubauen. Ich öffne Lyrikbände. Meine Hände, die diese Bewegung ausführen, schmerzen. Ich suche in den kleinen Zeilen nach einem Gegengewicht. Ich nehme Angelika Rainers Texte und spreche sie nach und verwende sie wie eine Salbe für meinen Mund, dass er überhaupt noch etwas sagt, für meine Brust, damit das Atmen nicht zu schwer wird, für die Hände – und den nächsten Stich.
Angelika Rainer: Zweckbau für Ziegen. Gedichte. Haymon, Innsbruck–Wien, 2023. 88 Seiten. Euro 22,90