Katharina Ferner liest Juliane Lieberts lieder an das große nichts als Winterlektüre
Wie Juliane Lieberts Gedichtband in meinem Bücherregal landete, kann ich nur erahnen. Er war wohl mangels Zeit irgendwann vom Lesestapel am Schreibtisch ins Bücherregal gewandert. Nun stieß ich, wie stets auf der Suche nach irgendetwas, plötzlich wieder darauf und blieb sofort am Titel hängen. lieder an das große nichts. Ich musste schlucken.
Das große Nichts erschien mir plötzlich verschlingend groß, winterriesig in diesem Moment und ich wollte es schleunigst füllen, vielleicht direkt mit einem Gedicht aus diesem Band. Überrascht werde ich gleich zu Beginn von einem verdrehten Toten, der kein Geringerer ist als Nikolai Gogol.
Foto © Katharina Ferner
Das Morbide, nach dem ich außerhalb der Wiener Literatur oft unbefriedigt Ausschau halte, zieht mich sofort hinein, weil es schräg ist und tragisch und alles beinhaltet, was mich sprachlich und inhaltlich interessiert. Das Wort „Galgenhumor“ kommt mir mehr als einmal in den Sinn. Indes wird in einem anderen Gedicht der verschollene Bruder bei Wien aus dem Fluss gefischt.
mein bruder mein bruder sagte, er wolle auf reisen gehen packte 30 kilo steine in den rucksack und stieg in einen fluss bei wien wir wissen nicht, ob im juni oder juli die bullen sagen: am 8. haben sie einen rausgefischt der so groß und schwer ist wie mein bruder der die gleichen narben hat wie mein bruder der uns gesagt hat: er wolle auf reisen gehen ein paar jahre, wir sagten: aber schulden hatte der mein bruder, und der mann im fluss hat keine papiere, aber das tattoo stimmt, sagen Sie: größe, gewicht, zähne und narben, dieselben?
Schräg sind die Ansätze. Möglicherweise Liebesgedichte. Die eingeflochtenen Märchen, die bekannten Personen, die popkulturellen Bezüge. Ein trockener Humor, vielleicht auch einfach eine nüchterne Weltbetrachtung durchzieht den Band, den man in dieser Hinsicht als charmant bezeichnen könnte, in welchem der Charme aber häufig sehr konkret auf die Scham trifft. Allerspätestens in dem Streitgespräch über die Aufhängung oder andere eventuelle Befestigungswahrscheinlichkeiten des Mondes nehmen sich die Texte selbst auf die Schaufel. Es wird absurd, lächerlich und sexuell, aber auch wahnsinnig witzig. Die Besetzung ist bunt. Gogol – das Partymädchen, Sternhuren unter dem Dachstuhl und Sockendandys auf der Suche nach der wahren Liebe, tanzen da durch die Zeilen. Das Zirkusensemble ist ziemlich verrückt, aber friedliebend.
Das große Nichts auf dem Cover ist nicht erwartbar schwarz. Stattdessen knallt uns ein rot entgegen. Während der Suche nach dem Gestalter des Covers, Erman Aksoy, stoße ich neben Lieberts 2020 bei starfruit-publications erschienenem Essayband Hurensöhne! ebenso auf vergriffene, selbstpublizierte Sonderbände einer anderen Textsammlung und freue mich, dass es noch mehr Kleinode zu entdecken gibt, abseits vom Großverlag. Das große Nichts aber, um darauf zurückzukommen, ist möglicherweise die bloße Sehnsucht nach Kippen in einer unwirklich scheinenden Welt. Es ist die Entzauberung (dichterischer) Sehnsuchtsorte. Mit der Erhabenheit von Dingen, Menschen und der Dichtung im Allgemeinen wird ordentlich aufgeräumt. Neben dem erwähnten Mond trifft es beispielsweise auch das blickversalzende Meer oder Marianne Faithfull in Paris. Auf der anderen Seite gewinnen diese durch den formulierten Realitätscheck an Sympathie. Das Meer, das zu Sommerlieben verlockt, aber einen auch auf einen selbst zurückwirft.
das meer das meer das hundsäugige das kalkfüßige meer tausend fingerzeige weit und ungezählte brusttiefen schwer, wo es heller ist als irgendwo weil das licht vom wasser gebrochen auf dich zurückgeworfen wird wo dir deine blicke versalzen ins gesicht schlagem wo du für einen hühnergott zwei gläser wodka eine nacht im tang dein leben ruinieren würdest für einen einzigen moment: die weite wie du sie siehst im spiegelbild des spiegelbildes eines fremden im zugfenster, neben dir, draußen
Zwischen der Direktheit finden sich aber auch Abrisse von extremer Sanftheit. Gerade aufgrund ihrer Gegensätzlichkeit entfalten diese eine umso stärkere Wirkung. Manchmal liegt sie bereits im Titel wie bei „und hoffen lernte ich tief im wald“ oder im lyrischen Porträt von Frauen wie Julia oder Lidija, deren Gesicht am morgendlichen Kissen herzförmig ist, genauer „ein lindenblatt mit wimpern“. Dann wieder spielt die Autorin mit den Formen. Dem „superweichen Schamhaar“ wird eine Blackout-Poem-Ode gewidmet. Wir erfahren weder Adressatin, noch, was denn an dem Schamhaar abgesehen von seiner Weichheit so lobenswert ist. „oh manchmal sind sie da und manchmal sind sie weg“ heißt es. Der Rest bleibt der Fantasie überlassen.
Juliane Liebert kannte ich bislang vor allem aufgrund ihrer journalistischen Arbeit. Nun habe ich sie auch literarisch für mich entdeckt und frage mich heimlich, ob der ausbleibende Schnee auch etwas mit göttlichem Sperma zu tun hat.
ein streitgespräch über das wahre wesen des mondes genauer: ein streitgespräch darüber, ob der mond hängt oder nicht I a: er hängt auf jeden fall nicht, woran sollte er den hängen? b: an gottes superweichen schamhaaren? a: aber die sind noch nicht lang genug. (und die wolken rasen über den mond, stehen dann still, als sei er ausgelaufen) b: vielleicht sind gottes schamhaare die locken des himmels. a: und die locken des himmels sind wolken. b: vielleicht wurde der mond aber auch an den himmel geklebt. mit einem pflaster. und der himmel ist ein überraschungsei. nur eben innen blau statt weiß. oder der mond ist eine designerlampe und, wenn vom erdschatten verfinstert, rot wie eine treulose tomate. a: manchmal sieht er aber aus, als sei er gestempelt. b: wer stempelt den mond? die romantikbehörde? wenn er ausläuft, womit ist er gefüllt? zitronencreme oder zaubertinte? a: wenn dann zaubertinte. der mond ist definitiv nicht klebrig. b: nicht wie gottes spermafäden? a: pfui. b: an denen er auch hängen könnte. a: dann würde der mond doch fallen, wenn sie trocknen. b: kann doch sein! die brauchen eben länger zum trocknen. und dann beginnt die apokalypse.
Juliane Liebert: lieder an das große nichts, gedichte, Suhrkamp 2021, Euro 18,90