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Bange Stunden im All

Bange Stunden im All

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Alexander Peer liest Fedor Pellmanns Nur noch den Abend erreichen


In einem dieser Texte heißt es, „wenn wir mit den Jahren die Härte der Knochen spüren, wird es Zeit“. Der Titel dieser Miniatur ist „Lost Places“. Dieses Motiv geistert durch den Band.

Viele dieser Arbeiten sprechen vom Verschwinden, das stets an einer Hinterlassenschaft festzumachen ist. Es sind Spuren der Auslöschung, die hier zusammengeklaubt werden. Im großen Ganzen von der historischen Geologie bis zum großen Teilchen, dem intimen Moment.

Cover © Jung und Jung Verlag

Eines dieser Gedichte nennt sich „Yucatán“ und übt die Perspektive einer Art, die vor uns das Aussterben zu lernen verstanden hat. Bekanntlich fällt das Ende der Dinosaurier in das fünfte Massenaussterben vor etwa 66 Millionen Jahren. In besagter Region des heutigen Mexiko hat ein folgenschwerer Asteroid eingeschlagen, der letale Arbeit geleistet hat. Im Verbund mit erhöhtem Vulkanismus war die Ära der Saurier besiegelt. In Pellmanns Gedicht „Yucatán“ erzählt uns ein Tlatolophus galorum – ein allem Anschein nach friedliebender Pflanzenfresser –, wie er gleißendes Licht erblickt und sich auflöst. Zurück bleibt sein Bild im Stein.

mein Gehirn gehört den Reptilien,
ich denke gelegentlich in Geysiren.

Verflüchtigung, das Aufheben eines identifizierbaren Ichs und Isolation – das trifft auch auf die voneinander abgekapselten Menschen dieses Bandes zu. Zu dieser Vereinzelung trägt die Materialität des Industriezeitalters entscheidend bei, die in diesem Band ein Kontinuum darstellt. Jetzt spricht man nicht nur vom Klimawandel und der Erschöpfung des Planeten, man benennt das Anthropozän als eine Epoche des sechsten Massenaussterbens. Werden wir die Krönung dieses Massenaussterbens sein? „Nur noch den Abend erreichen“ stellt die Diagnose: Ja.

Motivverwandlungen

Im Gedicht „Alter Mann und das Meer“ findet sich eine unmissverständliche Anspielung auf den letzten Hemingway-Text. Während der vereinsamte kubanische Fischer Santiago nach wochenlangen vergeblichen Ausfahrten auf einen Speerfisch trifft, mit diesem ringt und dabei als melancholischer Enkel des Kapitän Ahab von Herman Melvilles Moby Dick erscheint, so ringt der alte Mann bei Pellmann mit dem festen Boden unter seinen Füßen, der immerzu schwankt.

Alter Mann und das Meer

Jetzt kommt niemand mehr,
ich brauche nicht mehr zu warten.
Die Freunde sind bei sich.
Man kennt mich nicht mehr.

Besser so. Nun bin ich hier.
Irgendeine Stadt, irgendein Ort.
Ich kann noch Lebensmittel einkaufen, nun kenne ich mich.
Die Worte bleiben im Haus, die Spaziergänge
dehnen sich, sie verstehen sich,
die Stunden bekommen ihre Namen,
es gibt Gesichter.

Da liegt das Brot, das ist
der Tag, so ist der milde Abend,
laut die Nacht, sieh die Lichter,
in wirren Worten und vor mir das Meer
und die Löwen …

Dieser stockende, fast in Erstarrung gefasste Alltag, der keine Beziehung mehr zu anderen oder zur unmittelbaren Umgebung zu gestalten vermag, versucht im letzten Bild noch Größe abzurufen. Die Löwen. Der intertextuelle Verweis auf Hemingway betont den Charakter der Parabel. Der Löwe als König der Savanne ist bekannt. Es ist kein Geheimnis, dass das Tier für Macht, Lebenskraft und eine beachtliche Libido steht. Stellt sich jedoch der Verlust der Libido ein, dann ist die Dämmerung der Existenz und ihre furchtbar triviale Tragik erreicht. Diese Dämmerung prägt den Lichteinfall vieler hier versammelter Texte.

Kuratiert ist die Auswahl im Übrigen vom Autor Thomas Kunst, der vor kurzem den Erich-Fried-Preis erhalten hat. Pellmann legt hier den zweiten Gedichtband vor; sein Debüt Außengrenzen erschien 2022 bei Abrazos.

Lyrik und lyrische Prosa

Es ist ein Existenzialismus des Alltags. Für den Heros scheint sich keine Aufgabe mehr zu finden. Diese Miniaturen sind als Gedichte bezeichnet. Doch wird diese Klassifikation dem Band gerecht? Eine lyrische Prosa zeichnet sich durch eine vollständige Syntax aus. In sechs Kapitel sind diese Miniaturen geordnet. Den Beginn macht das Kapitel „Die Wälder und die Stimmen der Ballsäle“; das am stärksten prosaische Kapitel des Buchs. Hier finden sich beispielsweise keine elliptischen Formen; es sind in der Regel ganze Sätze. Das nimmt ihnen nichts an Qualität, doch die Wahl des Enjambements wirkt manchmal willkürlich. Erst später im Buch stellt sich ein „Sound“ ein, dort wo die Form sich mehr in das Wesen des Lyrischen wagt, mehr Weglassung zulässt und die Andeutung in den Vordergrund tritt zu Lasten der Erklärung.

An den berühmt-berüchtigten expressionistischen Roman Hunger des Nobelpreisträgers Knut Hamsun musste ich denken, als ich beim Gedicht „Kaum“ dieses Motiv fand – doch wie grundsätzlich verschieden zu Hamsun fungiert es hier.

Kaum

Man braucht kaum noch zu essen,
nur noch den Abend erreichen
und keinen Hunger spüren.
Da reicht auch vegan oder Sand.
Hunger deutete auf vieles hin.

Manche kommen mit wenig aus.
Überall noch Stunden. Wer kann noch rechnen?
Man muss nur den Abend erreichen,
irgendwie, und noch ans Leben denken.

Orientierungsloses Taumeln durch die Zeit. Der Hunger – ein Garant dafür, von einem Willen zu sprechen – droht verspielt zu werden. Wollen und können wir den Stab des Lebens nicht mehr weiterreichen? Gibt es keine Löwen mehr, die verzweifelt brüllen angesichts dieser Erschöpfung? Kaum noch zu essen, kann bedeuten in eine aufzehrende Askese einzugehen, keine meditativ-befreiende, sondern eine sedierte Stille, die einen Ruhepuls von unter 70 Schlägen pro Minute anzustreben scheint. Dort aber riskiert der Mensch den frühen Herztod.

Poetische Erstversorgung

Dabei streben auch diese Gedichte immer wieder danach, die Lücken zu identifizieren und poetisch zu verschließen. Wie sonst ließe sich eines der schönsten Gedichte beschreiben, wenn nicht als Versuch, die allzu eng gesetzten Grenzen innerer Wirklichkeit sprachlich zu sprengen und einen Raum zu schaffen für ein wenig Bewegung:

Zentren

Lass uns in den Zentren sein.
Hier altert der Himmel wie Flüsse in Tunneln,
die Gespräche verfallen nicht
so schnell. Wo Häuser stehen,
finde ich – den Zaun und den Abend schön.

An den Rändern hallen die Erinnerungen zu lange nach.
Lass uns breite Gehsteige mit harten Absätzen
Begehen, Krawatten tragen, hinter den Schaufenstern Mauern
ansehen und abends die Kinder verklagen.

Mehrfach ist im Buch das Wort „Rand“ zu entdecken und vielfach „Erinnerung“. Sie wird geradezu beschworen. Das Erinnern kämpft, denn die Beobachtung bleibt flüchtig und verdächtig. Einmal meint man etwas über Eisler zu erfahren, der einen Blumenladen in Montevideo eröffnet. Da mag man an den Exilanten Georg Eisler (eigentlich Georg Eisler von Terramare) denken, der in Südamerika dem Zugriff der Nationalsozialisten entkommen ist. Die Indizien bleiben indes vage. Erfährt man etwas über diesen Flüchtling oder bleiben wir in der Position derjenigen, die die Wirklichkeit nur vorüberzuziehen vermeinen ohne Zugriff? Diese Beobachtungen schaffen fortwährend Fragmente, sie entziehen sich konsequent einem Plan und machen einem bewusst, wie absurd der Anspruch ist, sie zusammensetzen zu wollen.

Zwar erweist sich der Autor als Kosmopolit, der seinen poetischen Fußabdruck auf die Lofoten genauso zu setzen weiß wie auf Neufundland, doch in den Mittelpunkt rücken spanische und lateinamerikanische Bezüge. Immer wieder ist es die Stadt der (vermeintlich) „guten Lüfte“: Buenos Aires bildet den Schauplatz von Suchen, Verpassen und manchmal auch Erhaschen.

See Also

Tanz auf der Bühne der Erdgeschichte

Es ist nach der Lektüre keine große Überraschung, dass Pellmann neben Germanistik und Geschichte auch Hispanistik studiert hat. Er hat 2021 eine umfassende Studie über den Tango im Verlag Dr. Kovač veröffentlicht. Der über 530 Seiten starke Band untersucht den Tango auch als Ausdruck einer Weltflucht. Das spanische Wort Tanguidad bedeutet Tangogefühl. Wer – wie ich – darauf konditioniert ist, Zusammenhänge zu suchen, der will in den Pellmann-Gedichten eine Ausstrahlung erkennen, die mit diesem Tangogefühl korrespondiert und aus welchem der berühmte Tanz hinausführen soll mit seinem oft aggressiv sexuellen Gestus. Pellmann formuliert weder eine politische noch eine philosophisch griffige Lösung für das Dilemma unseres Daseins. Aller Trost ist eine Chimäre, doch im Spiel – ob Wort, Tanz oder Karten – bewegt sich etwas und das ist gut: für den Moment. Denn unser Ausblick macht mutlos.

Gaia

Wir hatten auf die falsche
Metaphysik gesetzt. Die Erde
stirbt in fünf Milliarden
Jahren. Freaks, Gespenster
und Indianer verdampfen
mit dem ganzen Schrott allein
im Grill der Sonne. Wir waren,

nun suchen wir verzweifelt
nach einem anderen Sein.
Was uns bleibt, ist, alles zu digitalisieren
und als Radiowellen ins All 
zu jagen, in der Hoffnung
auf einen Empfänger.

Bis die solare Implosion einsetzt, haben wir noch eine Weile Zeit für Bücher und fürs genaue Lesen, etwa für die Leerzeile nach „wir waren,“ – Raum genug für ein Atemholen.

Mangelware Selbstironie

An wenigen Stellen mengt sich eine ironische Note in die gefrorenen Befunde unserer zielbefreiten Existenz. Zwischen alten Traditionen zu Visionen lückenloser Vernetzung in Form des Projektes Starlink, des von Elon Musks SpaceX betriebenen Satellitennetzwerks, pendeln wir. Diese Vision gerät je nach Perspektive zur Utopie oder Dystopie. Doch wie auch immer sie ausfällt, es ist klar, dass die plakativsten Wünsche keine Aussicht auf Erfüllung haben. Der Witz umhüllt für einen Augenblick die Wunde, die diese Gedichte kompromisslos befühlen.

Schönheit

Die Schönheit ist das wahre Existenzproblem.
Schöner Hunger, schöne Arbeit … und dann
reißen wir die letzten Etagen ab, kratzen an
den Partituren nach Essbarem. Wir sind Phagen,
die Starlink und Weihnachten lieben.
Das Schlimmste ist zu wissen,
dass wir nie mit Models schlafen werden.

Rar sind diese Fluchten in die ironisierende Selbstdistanz. Einmal heißt es, „und mein Plan ist nur die Pointe“. Wer so die Pointen setzt, schreibt notgedrungen ein Requiem. Bei manchen Texten kommt gar Misstrauen auf. Ist das Gedicht auf Seite 126 mit „Oregon“ wirklich richtig betitelt? Denn im Text finden sich mehrere Indizien und schließlich als Haupthinweis das Wort „Orgon“ selbst, dass sich dies alles auf Wilhelm Reichs Orgon-These einer universalen Energie beziehen mag.

Manche Nebensächlichkeit gerät durch die Gedichtform in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Dann kann sie einen fahlen Beigeschmack bekommen. Es ist ein Risiko, in einem Gedicht das Wort „banal“ einzusetzen, vor allem wenn die Benennung genau das leisten soll und damit das Banale offensichtlich wird. Ist so ein sinnlicher Mehrwert zu gewinnen?

Landregen

Mein Vater liebte Ringelnatz,
als er kurz vorm Ende stand. Ich habe
ihn gerochen.

Landregen ist uns immer unbekannt,
weil er die Fichten mitten auf die Wege
legt.

Die Musketiere sind real.
Die Männer haben Absichten.
Es gibt Fleisch und Zigaretten.

Der Rest ist banal.
Wir lauschen den russischen Wäldern.

Diese Gedichte benennen das Übel der Welt auf ihre eigene Weise, ob sie aber zur Verteidigung unserer Spezies dienen – wie dies im Klappentext behauptet wird –, darf doch bezweifelt werden.


Fedor Pellmann: Nur noch den Abend erreichen. Jung und Jung, Salzburg, 2024. 144 Seiten. Euro 23,–

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