Michael Hammerschmid liest Sam Zamriks Gedichtband ICH BIN NICHT
Buch in Buchhandlung. Ich vor Regal. Meine Arbeit als Lyrik-Festivalkurator, mein Vergnügen. Die Augen streifen über die Buchrücken. Es beiläufig tun, nicht zu genau schauen, die Augen schweifen lassen. Hier ist etwas. Hier ist etwas, was großgeschrieben steht, was unerhört ist, eine klare Aussage einerseits, andererseits etwas Paradoxes, ja Verstörendes: Ich nehme das Buch, das ICH BIN NICHT heißt, aus dem Regal.
Berlin ist auf dem Cover abgebildet, man sieht den hohen Fernsehturm. Aber noch eine Stadt ist darunter, spiegelverkehrt, zu sehen. Es dürfte sich um Damaskus handeln, die Stadt, in der Sam Zamrik in Armut aufgewachsen ist und aus welcher der junge Autor nach Deutschland flüchten konnte. Aus der Fremdheit des eigenen Ich schöpft der Autor auch seine Stimme.
Foto © Michael Hammerschmid
My visage is feign, / my image, and conduct. / Every time I catch myself, it’s not / me.“ heißt es im Motto des Buches. Was muss für jemandem „ich sein“ bedeuten, der dieses Ich kaum mit dem Grundlegendsten zu versorgen in der Lage war? Im fünfseitigen Essay „Die Armen der Städte“ reflektiert der Autor über den Slum und die Armut seiner Kindheit und Jugend. „Meine Armut befeuerte meine Neugierde. Hunger und Wissensdurst geben sich gern für das jeweils andere aus. Beide sind sie unstillbar und anspruchslos, was die Quelle und den Umfang ihrer Versorgung angeht, solange sie nur kontinuierlich verpflegt werden. Meine Seele war arm. Ich konnte nicht genug bekommen.“
Dem bitteren Vorklang dieses Vorworts stehen die nicht weniger bitteren Gedichte des Lyrikbandes gegenüber. Doch sie entfalten sich nicht zuletzt als ein Feuer an Sprache, an Lebendigkeit, präzise in der Analyse der Verhältnisse und hoch im Ton, klar und wie unmittelbar einfach und zugänglich, reflektiert und über sich hinausweisend. Und all das mit einer inneren Notwendigkeit und Schlüssigkeit, die in der zeitgenössischen Lyrik nicht oft zu finden ist. Bei Sam Zamrik ist das Existenzielle freilich in jedem Wort präsent, ohne auf andere Möglichkeiten des Ausdrucks zu verzichten. Verzichten, so darf vermutet werden, musste dieser Autor schon genug. Wo auch immer man den Gedichtband aufschlägt, er harkt ein:
Death I died first before I was two. My mother drugged me, fearing for herself. By five, I had fallen for Death. (…) Sterben Ich starb zum ersten Mal, da war ich keine zwei. Meine Mutter vergiftete mich aus Angst um sich selbst. Mit fünf hatte ich mich schon ins Sterben verliebt. (…)
Hier ist eine Grenze überschritten, die wir als absolut ansehen. Es ist etwas, das in Lyrik und Literatur manchmal möglich wird, eine Transgression. Hier erzählt sie in einer Metapher von Umständen, die wir uns kaum vorstellen können. Übersetzt wurde dieses Gedicht von Sylvia Geist und das besonders Schöne an diesem Band ist auch, dass sich gleich mehrere Übersetzer*innen gefunden haben, die mit ihren Stimmen die in englischer Sprache geschriebenen Gedichte ins und durchs Deutsche reisen lassen. Einer von ihnen, Ulf Stolterfoht, steuert in seinem Nachwort auch eine treffende Charakteristik dieses unerhörten Debüts bei und weist auf das weite Feld der „Vergewisserung und Selbstvergewisserung“ in dieser Dichtung hin: „Und auch hier möchte ich nicht falsch verstanden werden: Sam Zamrik nimmt uns keineswegs mit zu einer Therapiesitzung, er präsentiert uns keine Neue Subjektivität…“ (S. 128) Es geht in dem Band tatsächlich um mehr und anderes. Es geht um eine Art Vermessung eines Nicht-Ichs, das sich als Ich äußert und neu setzt, nämlich im Gedicht, als Gedicht. In der zweiten Strophe von „To Verse“ (An die Dichtung), von Monika Rinck übersetzt, heißt es:
In Gedichten erzählen wir keine großen Lügen, weder Geheimnisse noch ihrer Wirklichkeit Wahrheiten, unsere große Verkleidung. Nur die Kraft liebesbenetzter Kissen, und auch wir, da wir Augen auswringen um Worte zu vergießen – Ah! – … was die Dichtung erzeugt.
Michael Hammerschmid, 17.2. 2024
Am 13. Mai 2024 um 19:00 liest Sam Zamrik aus seinem Gedichtband im Rahmen des Lyrikfestivals Dichterloh gemeinsam mit Bettina Balaka und wird über ZOOM zugeschaltet sein.
Sam Zamrik: ICH BIN NICHT. Gedichte. Zweisprachig Englisch – Deutsch. Aus dem Englischen von Sam Zamrik, Heike Geissler, Sylvia Geist, Björn Kuhligk, Monika Rinck, Ulf Stolterfoht. Berlin: Hanser 2022, Euro 23,50
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