Helmut Neundlinger liest Pier Paolo Pasolinis Ein Unfall im Kosmos. 112 Sonette als Winterlektüre
Pier Paolo Pasolini beschäftigt mich schon lange, auf vielen Ebenen. Als Filmemacher, aber auch als Autor harter, bitterer Romane wie „Vita Violenta“ und nicht zuletzt als Dichter. Ich stelle ihn mir vor als einen nahezu rund um die Uhr produzierenden Geist, in dessen Arbeit alles ineinanderfließt: die Wörter, die Bilder, nicht zuletzt das Unaussprechliche, das Unzeigbare. Wenn ich etwas von ihm in einer Buchhandlung entdecke, muss ich zugreifen, so auch in diesem Fall.
Den unter dem Titel „Ein Unfall im Kosmos. 112 Sonette“ erschienenen Abgesang auf die große Liebe zum 27 Jahre jüngeren Schauspieler Ninetto Davoli habe ich großteils im Zug gelesen, auf der Pendlerstrecke zwischen Wien und Krems (und retour). 112 Sonette, die in gewisser Weise den Roman einer verlorenen Liebe bilden und die mich dranbleiben ließen vom ersten bis zum letzten Text.
Foto © Helmut Neundlinger
Ihr, der Ihr schnell seid, wusstet es schon von der Zeit unserer ersten Verliebtheit, ich, zu naiv und zu beschäftigt damit, Euch den Hof zu machen, eilfertig — und erpicht, nicht einen Tag auf euch zu verzichten; nun zahle ich den Preis. (Aus: Sonett 5)
Kann man gerecht sein, wenn man verlassen wird? Natürlich nicht, der Schmerz verzerrt nicht nur die Eingeweide, sondern auch die Urteilskraft. In einer solchen Lage auf eine strenge Form zurückzugreifen, mag immerhin ein Gerüst bieten, die Gefühlsachterbahn zwischen Trauer, Wut, Sentimentalität, Eifersucht und Ohnmacht zumindest auf Papier zu bannen. Als sich der Schauspieler Ninetto Davoli 1971 von seinem Geliebten und Mentor Pier Paolo Pasolini ab- und einer jungen Frau zuwandte, betrieb der Verlassene unter dem Arbeitstitel Das Hobby des Sonetts eine Trauerarbeit der hochliterarischen Art: Insgesamt 112 Sonette entstanden über einen Zeitraum von zwei Jahren, und in diesen kotzte sich Pasolini in wahrlich wenig charmanter Weise über den undankbaren Ninetto aus. Keine Frage: Er betrachtete ihn als seine Schöpfung, hatte er ihn doch vom Komparsen zum hauptberuflichen Schauspieler gemacht. Seine Rolle an der Seite des alternden Komikers Totò in dem Film Große Vögel, kleine Vögel (1966) verschaffte ihm den Durchbruch. Pasolini war dem ungezügelten Charme des Burschen aus ärmlichen Verhältnissen mit Haut und Haar verfallen, und etwas von der Energie dieser Amour fou hallt in den Sonetten wider. Der verlassene Künstler besingt den Abtrünnigen zunächst mit der Distanz schaffenden Anrede „Ihr“, was den Texten einen erhabenen Duktus verleiht, den Pasolini mit jeder Menge Unflätigkeiten und Herabsetzungen bricht.
Sie hat ihre Fotze: Nichts muss sie machen, als da zu sein: Diese Gewissheit ist die stärkste Waffe der Schlange. (Aus: Sonett 19)
Die Lektüre hat mich in ein durchaus nicht angenehmes Gefühl der Komplizenschaft versetzt, denn es ist einzig und allein Pasolinis Perspektive, die sich in den Sonetten breitmacht. Und dennoch entwickelte die Lektüre der Gedichte in mir einen Sog, der mich an der Seite des Autors durch alle Höllen und Schmerzens des Verlassenwerdens schreiten ließ. Mit diesen Texten lässt es sich auf facettenreiche Weise hineinhören in den nicht mehr jungen Pasolini, der an seiner Trilogie der Sinnlichkeit (Decameron, Canterbury Tales, 1001 Nacht) arbeitet und darin ein Kino schafft, das die Liebe in ihrer leiblichen Wucht und Wildheit feiert, voller Komik und Zoten, während der Privatmann sich so sehr in Larmoyanz und Selbstmitleid ergeht, dass er (auch das klingt in den Sonetten durch) zuweilen seinen besten Freunden unerträglich wird. Man wünscht dem Autor so sehr, dass seine Gedichte eine Art von Katharsis erwirken, aber es ist auch bei einem so berühmten Autor so, wie man es immer wieder an sich selbst erlebt (hat): Das Schreiben, das im ersten Augenblick so befreiend erscheint, stürzt einen nur umso tiefer in die Krise, verstärkt die idiosynkratischen Tendenzen und stimuliert nur allzu oft die tiefsitzenden narzisstischen Reflexe.
Sentimental, formalistisch und regrediert zu einer Sprache der Vergangenheit: das bin ich, mein Freund, von wegen stark oder respektiert! (Aus: Sonett 19)
Zwischen den Zeilen ist Pasolinis ausufernder Sonettenkranz in meiner Wahrnehmung aber doch auch eine Art Logbuch der Liebe: retrospektiv, die Splitter der Erinnerung versammelnd und ausgestaltend, den anderen in seiner Einzigartigkeit beschwörend. Es ist ein Abschied auf Raten, die beiden bleiben einander ja bis zu Pasolinis Tod beruflich und privat verbunden, und man spürt den Texten bis zuletzt ein Schwanken an, das hoffen lässt: auf eine Versöhnung, einen Ausgang in Würde, der all das Geschriebene miteinbezieht und am Ende doch loslassen kann.
Du wirkst fröhlich: Deine Fröhlichkeit hat ihren Ort in ihrer Wohnung, in dieser Winternacht. Vielleicht ist sie ebenfalls fröhlich. Du hast es beim Schopf ergriffen, mein verzweifeltes Zugeständnis vollkommener, grenzenloser Freiheit. Und jetzt genießt du es, in Frieden mit mir, im Einverständnis mit mir. (Aus: Sonett 98)
Abschließend sei noch Theresia Prammers Übersetzungsleistung hervorgehoben: Ihr gelingt es, die zwischen Pathos, Larmoyanz und Lakonie changierenden Originale in eine eigenständige poetische Form zu bringen. Damit schließt sie nahtlos an ihr jüngstes Mammutprojekt an: die unter dem Titel Nach meinem Tod zu veröffentlichen 2022 erschienenen späten Gedichte Pasolinis, die sie im Deutschen zum Klingen, zum Atmen, zum Leben bringt.
Pier Paolo Pasolini: Ein Unfall im Kosmos. 112 Sonette, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2023, Euro 27, 50