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Es zieht mich tief in Sehnsucht hinein

Es zieht mich tief in Sehnsucht hinein

Isabella Feimer liest Romina Nikolićs Unterholz als Winterlektüre


Samstagsregen, Stadt und das Zuhause eng vom Winter, der gewesen ist, und Wünsche klopfen ans Fensterglas, wollen ausgelüftet sein, wollen eine andere Luft, Atem haben, der in den Straßenschluchten nicht zu finden ist, jedoch in der Natur, jedoch in Poesie, die zum Greifen nahe ist, es zieht mich zu ihr hin, zieht mich tief in Sehnsucht hinein, und im „Unterholz“ werde ich fündig, sehnsuchtsfündig erlöst.

Der Text Unterholz von Romina Nikolić ist ein Auszug aus einem Langgedicht, der 2023 in der Edition Muschelkalk erschienen ist, und ein Wandern und Vortasten durch Geschichten und Empfindungen, die mit den jeweiligen Geschichten verwachsen sind. Unterholz erzählt von Menschen, Tieren, Pflanzen – eins sind sie in den Zeilen –, und vom Unsagbaren, das sich zwischen all dem Wachsen, Werden und Vergehen verbirgt.

Foto © Isabella Feimer

Manchmal schummelt sich ein Du an die Seite des poetischen Ichs, manchmal Figuren, deren Benennung bereits eine Geschichte erzählt. Den Großvater gibt es, die Mütterchen, später eine Mutter und eine Großmutter wird ihr an die Seite gestellt. Kindheit zieht sich durch den Text, wandert mit im Unterholz des Waldes, das stets auch eine Verbindung zum Dorf ist, das der Natur textlich gegenübersteht. Wenn sie über Kindheit schreibt, sucht Nikolić nach den unsagbaren Dingen, nach dem, das war, weil es eben nicht gewesen ist – und was war, ist gleichsam eine Vorahnung. „Es geht nie ohne Schmerz“, steht da geschrieben, und „für dich fahr ich die Narben ab“, wobei Schmerz und Narben geheimnisvolle Phantome bleiben.

Ich lernte schreiben, und alle Wörter
wurden Blütenstaub im Wind.

Das Ich zeigt sich als ein zeitenübergreifendes, es spricht Vergangenheit und Gegenwart in einem Atem aus und weiß Bescheid, was die Zukunft bringen könne. Es scheint, als habe dieses Ich ein Geheimnis, das es nicht lüften dürfe, das es zu verstecken gilt – im Wald, und dort, wo er am dichtesten und am dichtesten bevölkert ist. All das wilde schöne Leben, das der Wald im Text in sich sammelt, steht dem Dorf und seinen Geschichten gegenüber. Der Wald ist Zauber und er ist Zuversicht; es mich tief hinein zieht ins „Vortasten hin zur einzigen Lehre: Dass man berühren, aber niemals etwas halten kann.“

Es zieht mich tief in Romina Nikolićs Wildnis hinein – sie ist Auftakt und Ausklang, eine Gespenstergeschichte, Märchen und Mythisches, ein Wegweiser zwischen Licht und Dunkelheit, ist Winter und Sommer, sie ist ein Sehnsuchtsort, der sich allen anderen Orten gegenüber durch Fülle und Zartheit positioniert.

„Ich erinnere mich an die glückliche Verwilderung in unserem Wald“, schreibt Nikolić, und es ist Verwilderung, der wir begegnen, nicht nur im Wald, im Ich, das durch die Zeilen führt, im Dort, das sich ebenso wie der Wald im Weiterlesen verdichtet; das Erinnern selbst verwildert, will dadurch seine Wunden verschwinden lassen, will über sich hinaus wachsen, der Grausamkeit entwachsen, der Schuld, der Traurigkeit. Es ist der Blick des Kindes aus dem Unterholz, der bewegt, mich selbst in ein Erinnern bewegt, zurückversetzt in mein Staunen, als ich Kind gewesen bin. Der Text verbindet uns, die ihn lesen, mit dem eigenen Erlebten; lese ich die Zeilen, erinnere ich mich / mit … und anders und in Sehnsucht an Verlorenes, verloren in den Jahren, gefunden im Jetzt:

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Es gab Tage, an denen wir durchs Unterholz streiften,
tiefer, weiter und wortlos sammelten, 
was sich auf den Fensterbänken aufreihen ließ:
Federn von Eichelhähern, Hirschkäferkörper,
Zweige, die wie Zauberstäbe in unseren Händen lagen,
Mäuseschädel, Reste von Bast, die Kieferknochen
gerissener Rehe, Gewölle am Fuß hoher Tannen,
Schalen aus den leeren Nestern der Elstern und Kiesel.

Ich erinnere mich. Ich habe anderes erlebt, und doch erinnere ich mich an diese Worte, an das Gefühl, wie es ist, im Wald und nah eines Waldes zu sein, in der Verdichtung, die niemanden entkommen lässt. Sie ist das auch im Unterholz. So fängt uns die Autorin ein, sagt, „der Wald lag offen vor mir“, und lädt uns ein, mit ihr zu gehen, tiefer, weiter, wortlos und lauschend. Hinein in diese Welt, die vom Unterholz aus erzählt und mit jeder Seite erweitert wird. Die Welt öffnet sich in diesen Zeilen wie der Wald, und der Text selbst schreibt märchenhaft und im Dickicht mäandernd gegen das Vergessen an. Gegen das Erwachsenwerden?

Was es im Wald einmal gab, schreibt Romina Nikolić, was es in der Welt einmal gab, was einmal die Gefühle besetzen durfte; ein Sein, das anzustreben ist, weil es schwebend sein darf, losgelöst – selbst von Sehnsucht, die dieser Text mehr als nur einmal aus dem Verborgenen lockt. Bewege ich mich lesend durchs „Unterholz“, bin ich in ihm, rieche, schmecke es, ich kann die Tiere atmen hören und spüre mich inmitten all der wuchernden Pflanzen, ich darf das Dorf sein, darf Großvater oder eines der Mütterchen sein, darf als Du an Nikolićs Seite wandern und verlorengehen und weiß – im Samstagregen, in Winterenge –

Es war das Märchen von den Wunden,
die irgendwann heilen.

…

Es war das Märchen vom Wald,
in dem du behalten kannst, 
was du nicht festhalten willst

Romina Nikolić: Unterholz – Auszüge aus einem Langgedicht, Edition Muschelkalk der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V. Band 55, Wartburg Verlag – c/o Evangelisches Medienhaus, 2023, Euro 17,99

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