Alexander Peer liest Luca Kiesers vom Geschmack auf der Kellertreppe
Im Keller ist es dunkel, die Verortung gelingt nur mäßig. Ebenso ist die Erinnerung manchmal ein Verlies oder ein verdunkelter Raum. Doch mit welcher Sprache gelingt die angemessene Erleuchtung?
Luca Kiesers zweiter Lyrik-Band vom Geschmack auf der Kellertreppe erzählt parallel von einer Initiation, wie ein Mensch seine eigene Ausdrucksfähigkeit schmerzhaft entdeckt, und gleichzeitig von einer mühsamen Selektion, dem In-Erinnerung-Rufen von Vergangenem. Es überlappen sich Eigen- und Fremdwahrnehmung und selbst die eigene Erinnerung schaut mit mancher Wiederholung anders aus.
Cover © keiper lyrik
Als zentrales Motiv begegnet uns die Zunge und ihr natürlicher Lebensraum, der Mund. Der Text ist als Langgedicht konzipiert. Auszüge daraus waren bereits in verschiedenen Literaturzeitschriften wie wespennest, kolik, Lichtungen oder erostepost zu lesen. Jetzt liegt es in der von Helwig Brunner herausgegebenen keiper-Lyrik-Reihe in Buchform vor und erschien ein paar Monate nach Kiesers Romanerstling Weil da war etwas im Wasser.
Sofort fällt einem die Gestaltung mit zwei Ebenen auf. Zum einen der gesprochene Text, der im Duktus eines Monologs verläuft und sich schon in der ersten Zeile an das Gegenüber richtet. Höflich distanziert werden Leserin und Leser mit „Sie“ angesprochen. Somit lässt einen die Machart an ein Drama denken. Zum anderen leisten kursiv eingeschobene Regieanweisungen eine zusätzliche Dramatisierung. Das alles stärkt den Charakter eines Performance-Textes, zumal die Sätze mitunter stakkatoartig vorpreschen.
sehen Sie zeigt die Zunge meine Zunge schluckt streckt die Zunge heraus wie weit ich meine Zunge herausstrecken kann wie lang sie ist wie gelenkig und wie schnell was ich mit ihr alles tun kann sehen Sie nur ich kann sie umdrehen nach hinten sehen Sie so
In den Mund gelegt
Welcher Gegensatz zu jener tänzerisch-feurigen Zunge, die im ersten Teil von Nabokovs Lolita zu einem grazilen Dreisprung ansetzt! Buchstäblich heißt es dort, „die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.“
Kiesers Zungenstudie hingegen liegt ein ausdauernder Kampf zugrunde. Die Zunge scheint sich in ihrem Umfeld erst zurechtfinden zu müssen. Sie erkundet ihre eigene Wurzel, sie möchte aus dem Mund heraus und spitzt sich in die Welt hinein. Hier arbeitet sich jemand körperlich daran ab, zur Sprache zu kommen. Mit den Regieanweisungen dazwischen vermehrt sich auch der Slapstick-Gestus dieser Selbstentdeckung. Man mag an Samuel Becketts Einpersonenstück Not I von 1972 denken, in welchem – mit grellem Lichtkegel in den Fokus gerückt, während die restliche Bühne vollkommen dunkel ist – ein Mund auf einer Bühne spricht.
Diese Stimme rasselt ihre Biografie herunter und verausgabt sich. Sie erzählt von der tristen Gegenwart erschöpfter Betagtheit. Sie erinnert sich tapfer und kämpft sich vor bis in die Jugend, um Schritt für Schritt verpasste Chancen und Niederlagen kundzutun.
Evolution ohne wir
Bei Kieser ist die Route umgekehrt, die Verankerung im absurden Theater jedoch durchaus zulässig. Dieser lyrische Erzähler versucht sich in die kindliche Welt zurückzuarbeiten und setzt am Beginn der Mitteilungskraft an. Am Anfang war der Laut. Zurück in einer sprachlosen Kindheit, in der die anderen Menschen unfassbar bleiben und ihnen keine Beurteilungen unterstellt werden können. Auch die Formen der Wirklichkeit sind einfach beschrieben: So ist beispielsweise ein Fisch erwähnt, der nicht näher genannt ist, ebenso Tisch, Stein u.v.m. Weder räumliche noch sprachliche Nuancen entfalten sich so. Wir erfahren nicht, ob es sich etwa um eine Forelle oder einen Saibling handelt. Dieses ursprüngliche Reden orientiert sich demnach an der Kategorie und nicht am Konkreten. So schafft Kieser eine kindliche Welt der Wahrnehmung.
Doch es ändert sich etwas, vom Sprechakt bis zum Schreibakt reicht die mühsame Evolution. Inmitten der persönlichen Erfolge lauert allerdings die Niederlage auf Beziehungsebene, wie dieses Zitat aus dem Text zeigt:
bis ich eines Tages ohne mit dem Stift abzusetzen DASISTDASHAUSVOMNIKOLAUS schrieb in einer Linie meine Freundin neben mir den Arm hob und abwechselnd solange schnippte und auf das Papier auf dem Tisch vor mir deutete bis es irgendwann aus ihr hausplatzte ich hätte keinen Platz zwischen den Wörtern gelassen da beugte ich mich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr sie sei nun nicht mehr meine Freundin
Dieses hier ausgesprochene Alleinsein zieht sich als Motiv durch diese ganze Erkundung. Diese Passage speist sich immerhin durch den tragischen Witz. Wer diesem Geschmack auf der Kellertreppe lesend nahekommen möchte, kehrt in sich ein. Die soziale Umgebung verkümmert. Bloß der Bruder ist erwähnt, doch da ihm unter anderem kein Name gegeben wird, mutiert er zur reinen Schablone und wird nicht zur Person. Noch schwieriger zu fassen ist eine ominöse Sie, vermutlich die Mutter oder Erziehungsberechtigte, die als anwesende Abwesende opak ist.
Nur einmal ist eine weibliche Person fassbarer, weil sie mit einem Alter verbunden ist. Die 89-Jährige – mutmaßlich die Großmutter – tritt in die Erinnerung. Doch die Erinnerung scheint zunächst unentschieden zu sein, ob sie einen Sturz der Großmutter gespeichert hat oder den Unfall des Erzählers, dem mit Pinzette die Steinchen aus dem verletzten Körper gezogen werden.
Dieser Gegensatz zwischen einer detaillierten, meist körperlichen Erinnerung und einem Mangel an Verortung und Zuordnung ist das Charakteristische dieses Bands. Nur ganz zum Schluss, im siebten Teil, lesen wir ausschließlich kursiv gesetzte Zeilen, die komplett als Regieanweisung zu verstehen sind. Hier scheinen die zuvor in den Erinnerungssentenzen beschworenen Plätze der Kindheit mit einem Laufschritt bewältigt zu werden, bis der Erzähler ein Gewehr packt, in die Küche kommt und der Frau, die einen Fisch zubereitet, entgegentritt. Unheimlich ist dieses Ende und offener kann ein Buch kaum enden. Schließlich ist ein Bindewort an diesen Schluss gestellt, das Wort „und“, das seltsam bezuglos im gelblich-weißen Umfeld des Blattes auf etwas wartet.
Stilistische Machart
In einigen Passagen trennt der Zeilensprung das Subjekt vom Prädikat. Steht das Verb aber unverbunden da, dann hängt auch das Subjekt tatenlos in der Luft. Es entsteht eine kleine Zäsur, ein Stocken. Dieses Detail verstärkt die unrunde Rede. Hier ist einer nicht im Sprachfluss und damit nicht im Erinnerungsfluss. Das Tätigkeitswort hat im Satz die Funktion der Bewegung, sabotiert man die Bewegung, dann rückt auch die Struktur der Sprache selbst in den Vordergrund.
Nachvollziehbar wird das etwa hier:
hinein zwischen die weißen Steine manche davon größer als ich war gibt es da und Gräser wuchsen mir bis über die Schultern ich schlich darin umher lauerte eine Zeit lang lebte eine Schlange hier ihr Nest hatte sie irgendwo im Schilf und durchs Schilf sah ich
Im weiteren Verlauf findet das lyrische Ich zur Schrift. Es ist wie bei den Höhlenmalereien, wo sich die Menschen einst im dunklen und engen Raum besonders schwer zurechtfanden, sich strecken mussten und manchmal bloß Gekritzel als Botschaft hinterließen.
steigt auf die Zehenspitzen dass ich beispielsweise um mit dem Kellerschlüssel einen Strich ins Kalkweiß der Decke über der Kellertreppe ziehen zu können auf die Zehenspitzen steigen und den Kellerschlüssel an seinem hinteren Ende halten musste
Diese Schritte hin zur Bewältigung der Schriftsprache gehen ebenfalls mit körperlichen Verrenkungen einher wie schon die verbalen Mitteilungen.
Gleichzeitig liefert der Band so viel an räumlicher Information, dass sich eine Natur und Umgebung imaginieren lässt: Garten, See, Wiese, Wald, Radwege, Haus und Keller. Doch auch wenn dieses Ich sich um viele Detailbeschreibungen abmüht und sich einer Erinnerung vergewissern möchte, scheint es rasch wieder ausgeschlossen zu sein und auf sich zurückzufallen. Die Kindheit ist mit einigen deutlichen Bildern verankert, der Zahnfee etwa. Dieses Motiv ist fein eingearbeitet in eine Beobachtung über einen Tierknochen, in welchem „7, 8, 9“ Zähne stecken.
Die hier gezeigte Dreifaltigkeit der Zahlen ist eine Privatmythologie. Mehrfach versucht das lyrische Ich seine Erinnerung mit Zahlen zu umstellen und dingfest zu machen. Immer sind es drei, oft liegen sie weit auseinander, sei es bei den Ameisen oder den Ringen der Bäume. Manche fantasievolle Verwandlung lässt einen erahnen, wozu Kinder in ihrer Welt jenseits der Physik imstande sind.
setzt sich Stunden hockte und die aus dem Spalt in der Rinde wo er sich teilte strömenden Ameisen zählte 14, 25, 49 oder die Beete hinabspähte zwischen den Tomaten Himbeersträuchern Margeriten hindurch durchs Fenster sehe ich in mein Zimmer tritt sie es folgt ihr jemand sie sprechen miteinander in der Fensterscheibe spiegeln sich die Margeriten Himbeersträucher Toma- ten und darüber der blaue Himmel in einem viel dunkleren Blau und die darin treibenden Wolken dann öffnet sie das Fenster ruft mich ich steige aus dem Ahorn gehe ums rote Haus durch die Küchentür ins rote Haus durch die Küche den Flur in mein Zimmer und während ich von Stange zu Stange schwang schob sich eine der im Blau treibenden Wolken vor die Sonne
Das Buch ist eine konzentrierte Untersuchung spezifischer Phänomene des Kindseins. Für mich ist der damit verbundene Selbstbezug oft zu mächtig, auch verlangt das Hermetische dieser Literatur nach ganz genauem Lesen. Dass manche Fährte nur skizziert und dann nicht weiter verfolgt wird, gehört zum Fragmentarischen des Erinnerns und stört nicht. Die Atomisierung der Erinnerung jedoch wird so verstärkt. Es ist für mich daher eher ein Befund und keine Ermunterung, mit der eigenen Erinnerung in Dialog zu treten.
Luca Kieser: vom Geschmack auf der Kellertreppe. edition keiper, Graz, 2024. 74 Seiten. Euro 16,50