Jelena Dabic liest Evelyn Schlags ins weiße meer der schrift
Nach den letzten beiden Romanen In den Kriegen (2022) und Please Come Flying (2023) legt Evelyn Schlag einen Gedichtband vor, den ersten seit verlangsamte raserei von 2014. In einigen Zyklen des aktuellen Bandes, dessen stilvolle grafische Gestaltung samt Cover sehr überzeugt, verarbeitet die Autorin zentrale Motive der beiden letzten Romane. Das 128-Seiten-Buch, für dessen sorgfältige Lektüre man sich Zeit nehmen muss, ist in thematische Blöcke aufgeteilt, die zugleich bestimmten Settings entsprechen.
Momentaufnahmen aus dem Kriegsgebiet
So kann man den ersten Zyklus, „im krieg“, als eine lyrische Entsprechung zum Roman von 2022 lesen; die hier dargestellten Szenen sind im aktuellen Krieg in der Ukraine angesiedelt. Auch hier begegnet man jungen Männern, die nun an der Front kämpfen.
Cover © Hollitzer Verlag
In den kurzen Szenen, etwa bei der Versorgung eines Verwundeten, erscheinen die jungen Soldaten als kritische bis misstrauische Beobachter, oft voller neidischer Blicke, und sei es nur auf die perfekt sitzenden Einmal-Handschuhe des Sanitäters. Sie lieben es, frei zu assoziieren, etwa vom Aussehen und der Geschicklichkeit des Militärarztes auf die Zahl seiner Frauen zu schließen, ebenso gerne suchen sie nach dem richtigen Ausdruck.
seine hand ruht (ruht ist gut) in einer nierenschale auf dem flachen bauch. sie gehört noch ihm, ist noch nicht abgetrennt. ein blutiges gemisch aus fleisch und knochen. reichlich ungenau, das geht jetzt aber nicht genauer.
An einem anderen Schauplatz erinnert sich der Soldat – kurz vor dem Angriff – an eine Szene aus einem amerikanischen Film, die ihn ihrerseits an seine Freundinnen erinnert. Alle diese Momentaufnahmen aus dem Kriegsgebiet wirken ganz unmittelbar, sind gewissermaßen aus nächster Nähe aufgenommen. Da und dort blitzen Augenblicke der Kameradschaft auf, etwa wenn ein älterer Soldat von seinem jüngeren Kameraden in Sicherheit gebracht wird. Auch hier assoziiert der wohl Zwanzigjährige; es fallen ihm Sätze aus der Literatur ein oder Sprüche, die jeder zu kennen glaubt. Aber auch die Empfindungen von jungen Frauen kann Evelyn Schlag sehr treffend wiedergeben, ihre Liebe und nicht zuletzt ihren Hang zur Pathetik. An derselben Stelle findet sich aber ein völlig unverbrauchtes Bild:
manchmal sehne ich mich nach dem vorkrieg – im „vorkrieg“ lagen wir als kleine schlachthasen im halb= schatten. das war liebe.
Überraschend und rätselhaft ist auch das Bild einer gealterten Schauspielerin auf einer Bühne. Kann das Stück wegen des Kriegsgeschehens nicht aufgeführt werden oder ist es ein Stück über den Krieg? Der Zyklus schließt mit einem Bild junger Soldaten, die, in einer Schule untergebracht, an verspielte Kinder erinnern. Die äußerst lebendige Szene erinnert an Jungen in einem Ferienlager, die einander in ihrem Heimzimmer beschimpfen und miteinander konkurrieren.
Mutter und Vater, Frau und Mann
Einer der weiteren thematischen Blöcke des Bandes hat die Mutter der Autorin im Blick, deren Jugend sie anhand von Fotografien nachgeht. Von klein auf ans Fotografiertwerden gewöhnt – und wohl auch ans Bewundertwerden –, erscheint die junge Frau hier in einer Reihe von Gedichten als ein Objekt, das man sich wohl gerne ansieht. Die thematische Überschneidung mit Evelyn Schlags New York-Roman von 2023 erkennt man daran, dass die junge Mutter ihrem Mann ohne Kind nach New York nachreist. Originell und von einer sehr persönlichen Wärme durchdrungen ist dabei etwa eine sorgfältig gestaltete Notiz, in der der Ehemann und Vater den Weg zu seinem Arbeitsplatz in einem Spital penibel genau beschreibt. Das Vergnügen der jungen Frau, die fröhlich vor imposanten Gebäuden posiert, ist getrübt durch die immer wiederkehrende Erinnerung an das zurückgelassene Kind.
Der mit „lustige tränen flogen mir zu“ betitelte Abschnitt umkreist Situationen der Begegnung von Mann und Frau. Das lyrische Ich beobachtet, wie sich eine junge Frau von einem ihr nicht bekannten Mann verführen lässt. Eine andere Szene präsentiert Liebende in großer Entfernung voneinander und endet mit einer ungeplanten Kindeszeugung und -weglegung. In einem sehr kurzen, stimmungsvollen Gedicht sind viele Momente enthalten, ohne klar benannt zu werden: das Begehren einer Frau, ein heller Vorabend, das Warten, jemandes Weggehen. Als Setting für erotische Erinnerungen kann ein vom Schnee beleuchteter nächtlicher Wald ebenso dienen wie der Hof eines Krankenhauses. Begehrende Gedanken und Vorstellungen entspringen in diesen Texten dem jungen ebenso wie dem gealterten Ich. Liebe ist hier Vergangenheit ebenso wie unmittelbare Gegenwart.
Historische Spuren und Hommagen
Erwähnenswert ist schließlich auch noch der Gedichtzyklus fellner & helmers opernhäuser, der Eindrücke von Reisen wiedergibt oder aber als Würdigung der Lyrik von Christine Lavant und Georg Trakl zu verstehen ist. Bereits im ersten Gedicht, das der großen Dichterin gewidmet ist, gelingt es Evelyn Schlag, in Form, Inhalt und Aussage sehr treffend auf Lavants unverwechselbaren Stil anzuspielen. So ist beispielsweise das Gedicht „meine letzte stimme 1–7“, das eine Szene in der Psychiatrie zum Inhalt hat und unmissverständlich mit Gott hadert, perfekt gereimt.
jeden dienstag knöpfen sich die kranken entlassenen patienten die hemdsärmel zu. sie gehen wie auf kohlen, schwanken und tragen in der tasche eine fremde ruh.
Auch die Radikalität von Lavants Liebesgedichten ist hier erstaunlich genau wiedergegeben, ebenso ihre musikalischen Reime. In den folgenden Gedichten sind viele für Lavant charakteristische Motive zu finden oder aber Themen aus ihrer Biografie: Krankheit, Gebrechlichkeit, Vorbereitung auf den Tod, Gottesglaube und seine Infragestellung, das Stricken und das Stricken am eigenen Lebensfaden, Resignation, die feindselige Natur. In einem Gedicht lässt die Autorin sogar die große Dichterin in einen Dialog mit Georg Trakl treten, dem wiederum das darauffolgende Gedicht gewidmet ist.
Hier greift Schlag zu einem ganz besonderen lyrischen Trick: Sie bringt den jungen Apothekerhelfer und Drogenkonsumenten mit der aktuellen Opioid-Krise in den USA in Verbindung. Ein am Straßenrand schlafender Drogensüchtiger in Philadelphia löst die Erinnerung an den Drogentoten aus dem Ersten Weltkrieg aus; das Verblüffende an dieser reichlich tragischen Szene ist der leichtfüßige Singsang der Zeilen, der fast an ein Lied erinnert. In einem anderen, mit „polen“ betitelten, meisterhaft gereimten Text beobachtet das lyrische Ich zwei frisch Verliebte; „cernivci“ gibt einen friedlichen, fast romantischen Eindruck der Stadt Tschernowitz.
Evelyn Schlags neuer Gedichtband ist thematisch und formal so vielseitig, so eindrucksstark und berührend wie ihre Romane der letzten Jahre. Wer ihre Prosa mit großem Gewinn gelesen hat, sollte sich auch ins weiße meer der schrift nicht entgehen lassen.
Evelyn Schlag: ins weiße meer der schrift. Hollitzer, Wien, 2024. 128 Seiten. Euro 19,-