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Was die Elster sagt

Was die Elster sagt

Leopold Federmair liest Olga Martynova: Such nach dem Namen des Windes als Winterlektüre


2023 veröffentlichte Olga Martynova ein ungewöhnliches Buch, an dem sie nach dem Tod ihres Mannes, des russischen Dichters Oleg Jurjew, im Jahr 2018 zu schreiben begonnen hatte. Es trägt den Titel und ist ein vielstimmiges Gespräch über die Trauer. Darin findet sich der Satz „Aber was sind wir abseits unserer Poesie.“ Eine Frage ohne Fragezeichen, das heißt, eine Feststellung – die rhetorische Antwort könnte lauten: Nichts. Ohne unsere Poesie sind wir nichts.

Diesen Satz unterschreibe ich lieber nicht, oder nur mit Vorbehalt, weil ich glaube, dass wir auch in unseren Erinnerungen und Aufgaben, sogar das Wort „Pflichten“ würde ich gebrauchen, etwas sind, ja sogar in unseren Projekten, die wir vielleicht nie realisieren werden. Leben ohne Poesie heißt ein Sammelband der Gedichte Peter Handkes, der eben poetische Texte enthält und auf das Leben verweist. Vielleicht kann man Martynovas Satz so verstehen: Unser Leben ist nichts, wenn es nicht von Poesie durchzogen wird. Insofern sind auch die Dichter immer wieder mal – nichts. Und alle Lebenden poetisch.

Martynovas kürzlich erschienener Gedichtband Such nach dem Namen des Windes enthält ebenfalls viel Gespräch, natürlich mit Jurjew, den sie mehrmals zitiert, aber auch mit zahlreichen anderen Dichtern. In beiden Büchern kann man sehen, dass für Martynova das Gelebte und sonsthin in der Wirklichkeit Vorgefundene gleichberechtigt neben dem riesigen Material der Literatur-, Kunst- und Geistesgeschichte als Stoff dient

Cover © Fischer Verlag

Diese Haltung könnte man „postmodern“ nennen, warum nicht: Mitdenken und Mitleben des Bisherigen, des Anderen, in allen eigenen Schaffensmomenten. Vor lauter Intertextualität kommt man da gar nicht mehr zum Schauen – so daß es oft besser sein wird, unbelastet von Herkunftsfragen sich den Texten zu widmen, so und nicht anders, wie sie uns entgegentreten.

Eines ihrer Gedichte jüngeren Datums trägt den Titel „La Speranza“. Es ist fast eine Allegorie der Hoffnung, oder überhaupt eine Allegorie, zumal Speranza in Italien auch als Personenname gebräuchlich ist. Martynova hielt sich längere Zeit in Italien auf, und dieser Aufenthalt hat deutliche Spuren hinterlassen, nicht zuletzt, in Gespräch über die Trauer, den essayistisch-erzählerischen Strang über Neapel, einer Stadt, die einen besonderen Totenkult pflegt und die Martynova in ihrer Imagination mit Sankt Petersburg, wo sie jahrelang mit Oleg Jurjew gelebt hatte, parallel setzt. Auch diese Art des oftmals unerwarteten, sozusagen schrägen In-Verbindung-Setzens könnte man mit dem Epitheton „postmodern“ belegen; ich spreche gern von „Transversalität“ und betone damit, dass es in solcher Ästhetik niemals darum gehen kann, einen Überblick zu erarbeiten oder die Vision eines Ganzen zu konstruieren. Wir nehmen uns aus dem Supermarkt der Geschichte, was uns ins Konzept passt.

Der liebe Gott
der liebe Gott ist eine ziemlich große Sanduhr,
die Erde steht auf dem Uhrsand,
den er aus dem Ursand entsandt,
der Sand schmerzt und schmilzt
ins Stundenglas. in hora mortis.
der liebe Gott ist eine kleine Bresche
mit allerlei Frisur,
das wissen alle.
der liebe Gott in seinem Gnadenzorn
ist eine Bananenschale.

Und gleich muss ich diesen Satz relativieren, weil die Geschichte keine grande surface ist, sondern Tiefe hat, in die man als Autor oder Historiker erst einmal hinabsteigen muß – was nicht immer einfach ist –, um dort zu schürfen. Das vergessen die mit Smartphone und Google Aufgewachsenen (darunter auch Autoren) manchmal, oder sie haben es nie gelernt. Martynova hat sich immer wieder um die Aufarbeitung von historischen Epochen bemüht, auch in ihren Romanen, exemplarisch in Sogar Papageien überleben uns.

Aber zurück zur Hoffnung, zu Speranza. Martynova zitiert hier zwei große italienische Dichter, Eugenio Montale und Giuseppe Ungaretti, dazu den jüdischen Russen Ossip Mandelstam. Sie kommt nicht vorbei an dem berühmten Vers Dantes: Lasciate ogni speranza, und übersetzt ihn auf ihre Weise, wobei Subjekt und Objekt wechseln und überhaupt die Bedeutungen schillern: Ich verlasse die Hoffnung, aber auch: Die Hoffnung verläßt mich, es ist eine einvernehmliche Trennung, vielleicht widerwillig, aber im Einvernehmen. Leben ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen mit dem Verschwundenen und mit der Hoffnung selbst. Die Dichterin legt diese (von Dante herstammenden) Sätze der Elster in den Mund, deren Name ist anscheinend Speranza.

Ich habe mich gefragt, wer die Elster sein könnte; sie kommt ziemlich oft in dem Gedichtband vor. Vielleicht einfach „nur“ ein realer Vogel, der ab und zu vor dem Fenster der Dichterin – in Edenkoben? – auftaucht. Aber auch ein Bote, vielleicht einer, der zwischen Diesseits und Jenseits verkehrt, und auf alle Fälle die Zeiten durchqueren kann: Einmal fliegt die Elster „von Gilgamesch nach Hiroshima / und etwas weiter / und dann im Kreis zurück“. Sie könnte auch Taube (Brieftaube?) oder Rabe sein, also raven, womit wir auf das berühmte Gedicht E. A. Poes verwiesen wären, mit seinem insistierenden nevermore, das ebenfalls die Hoffnung verabschiedet. Ich habe aber das Gefühl – mehr als ein Gefühl ist es nicht, auch nicht weniger –, dass Oleg Jurjew mit dieser Elster zwar nicht geradezu identisch ist, aber mit ihr in Verbindung steht. Die Petersburger Nachtigall. Steht in der Luft wie ein Kolibri. Eine kleine Vogelversammlung, franziskanisch. Rückkehr, in seltenen Momenten, des toten Dichters.

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Einmal wird im Gedichtband die Elster zitiert, der Satz lautet: „Die Zeit ist eine Zwiebelrose, / die dann und wann leck wird / und das Zugleich hinauslässt.“ Ich kann den Satz niemandem zuordnen, Internet hilft da nicht viel, vermute aber, dass er von Oleg Jurjew stammt (womit die Elster doch noch identifiziert wäre). Und er passt auf Olga Martynovas Romanästhetik, in der sowohl die Zwiebel des gegenwärtigen Alltags geschält wird als auch die historischen Zeiten konvergieren können.

Das erste namentlich zugewiesene Zitat von Jurjew in Frag nach dem Namen des Windes findet sich im ersten Gedicht, das als Introitus zu dem ganzen Band dient und eines seiner schönsten ist. In diesem Satz kommt, in Verbindung mit Hölderlin, eine Taube vor, die dann auch in Martynovas Gedicht geflattert ist. Es ist eine – wie soll ich sagen? – Verquickung oder ein Patchwork, eine Zusammenstoppelung oder – kulturgeschichtlich-vornehm gesprochen – Engführung von zwei Gedichten, nämlich Hälfte des Lebens von Hölderlin und dem bekannten jiddischen Lied A bisele mazl? des aus Galizien stammenden Autors und Schauspielers Ben-Zion Wittler, dazu ein Einsprengsel des KZ-Überlebenden Jean Améry und die Jurjewsche Taube, die quasi als Verbindungshelferin fungiert. „Vu nemt men a bisele Glik“, das klingt tatsächlich wie ein Nachhall von Hölderlins Vers „Wo nehm ich, wenn es Winter wird, die Blumen…“ – den der jüdische Textdichter nicht im Kopf gehabt haben wird, als er seinen Schlager schrieb.

Für mich ist Martynovas Engführung ein wunderbares Beispiel für jene Transversalität, die im freien orpheischen Umgang mit den Toten, den Werken und Zeiten gedeiht. Sie gibt gleichsam die poetische Methodik an für den ganzen Gedichtband. Ihre Dichtung ist bis heute und auch in deutscher Sprache geprägt von der Lakonie und dem Absurdismus, womit sie und ihre russischen Dichterfreunde und ihr Lebensgefährte Oleg Jurjew einst den spätsowjetischen Zwängen begegnete. Geprägt von einem oft leisen, untergründigen Humor, der das Konkrete, das sich nicht in Symbolik erheben und auflösen lässt, in die Dichtung einlässt, auch und gerade dann, wenn sie sich in altvertraute symbolische Gefilde begibt. Neue Zwänge sind entstanden, auch ihnen will man sich entziehen. Halten wir uns an das Unhaltbare, halten wir uns an den Übermut des Windes.


Olga Martynova: Such nach dem Namen des Windes. Frankfurt am Main, S. Fischer 2024, Euro 26,50

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