Die Poesiegalerie hat Ihre Autor:innen um Buchempfehlungen gebeten.
Im November 1995 hat die UNESCO beschlossen, an jedem 23. April den Welttag des Buches zu feiern, und zwar aus der Erkenntnis heraus, dass es für eine kultivierte Menschheit notwendig ist, für alle Menschen den Zugang zu Büchern und zum Lesen zu sichern. Die Initiative ging damals von Spanien aus, seinen Ursprung hat der Feiertag für das Buch nämlich in einer katalanischen Tradition, wonach sich die Menschen zum Namenstag des Volksheiligen Sant Jordi (Sankt Georg) Rosen schenken. Seit den zwanziger Jahren werden auf Initiative der Büchergilde von Barcelona auch Bücher verschenkt. Der 23. April ist besonders in Barcelona, der Hauptstadt Kataloniens, ein Kulturereignis mit Volksfestcharakter, bei dem Verkaufsstände auf den Straßen aufgebaut sowie Lese- und Bücherfeste organisiert werden.
Hier einige Fotoimpressionen vom heutigen Sant Jordi-Tag in Barcelona, die uns die persisch-amerikanische Autorin Sholeh Wolpé übermittelt hat:
So weit sind wir hier in Österreich noch nicht, doch die Idee, einander zu diesem Tag Bücher zu schenken, möchten wir als POESIEGALERIE gerne aufnehmen. Zu diesem Zweck haben wir Autorinnen und Autoren gebeten, uns zu sagen, was für einen Lyrikband Sie denn zu diesem Anlass verschenken würden. Hier können Sie nun die individuell sehr unterschiedlichen Antworten von sieben Autor*innen lesen. Und wem gerade niemand einfällt, dem man/frau eines der unten genannten Bücher schenken möchte, dann wäre auch die Selbstbeschenkung eine zulässige Alternative und ganz im Sinne des Welttags des Buches.
„Sor Juana Inés de la Cruz (1648-1695) war Universalgelehrte, Dichterin, Nonne und Amerikas erste Feministin. Ihr Werk umfasst religiöse und weltliche Lyrik, Gesänge und Theaterstücke, autobiographische Prosa und ein Langgedicht, das aus 975 unregelmäßig gereimten Versen besteht: Erster Traum.
Margret Kreidl © Lucas Cejpek
Das Werk ist ein Erkundungs- und Erkenntnisflug im Traum, eine Erforschung des Universums, der himmlischen Sphären und des eigenen Innenlebens, eine Seelenreise. Das ist kein leichter Lesestoff, diese Dichtung mit ihren dunklen Bildern, rätselhaften Metaphern, dem komplexen Satzbau und dem Rhythmus der Verse – stockend und mitreissend zugleich. Das alles muss man im Lesen ergehen, mittanzen, mit der Stimme ausprobieren, laut und leise lesend, wieder zurückkehren, noch einmal den Versen nachgehen. Es ist ein studierendes Lesen und gleichzeitig ein Überwältigtwerden von einer dichterischen Glanzwelt. Nora Zapf hat den tropisch-hermetischen Barock der Zehnten Muse neu ins Deutsche übertragen.“
Sor Juana Inés de la Cruz: Erster Traum. Aus dem mexikanischen Spanisch und mit einem Nachwort von Nora Zapf. Vorwort von Johannes Kleinbeck und Oliver Precht. Spanisch / Deutsch. Turia + Kant, Wien 2023.
„zu den schönsten techniken poetischen sprachgebrauchs gehört es, ausdauernd und in fließenden übergängen die rede zu wenden, das heisst, die alltäglichen redeweisen, die unseren alltag strukturieren und konstituieren, ihre inhalte und formen, einer derart aufmerksamen bearbeitung zu unterziehen, dass daraus sprachliche kunstwerke entstehen, in denen gleichzeitig funktionen der sprache sichtbar werden, während wir lesend – also spracherfahrend – das geschenk erhalten, über unser funktionieren in der sprache und durch die sprache nachzudenken. gerhard kofler wurde in der nachkriegszeit des zweiten weltkriegs in die italienisch-südtirolerischen sprach- und lebensverhältnisse hineingeboren, in denen die spannungsverhältnisse von andauernden grundlegenden veränderungen besonders auch im sprachlichen alltag spürbar waren.
wie er von seinen frühesten dichterjahren an damit umging, mit welchem mut und welcher entschlossenheit er die permanent miteinander konkurrierenden sprachräume der dominanten hochsprachen und des landschaftlichen dialekts sich eroberte und für sich in poetische rede wendete, ist atemberaubend und bezaubernd.“
Herbert J. Wimmer © Autor
Gerhard Kofler: in fließenden übergängen / in vasi comunicanti. Frühe Gedichte in Deutsch, Italienisch und Südtiroler Mundart. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Maria Piok & Christine Riccabona. A cura e con una postfazione di Maria Piok & Christine Riccabona. Haymon Verlag, Innsbruck-Wien 2019
„…wohl bitten / um erträgliches reisen / (erbärmliches?) doch / wohin“ heißt es beispielgebend im ersten Gedicht („eine woche, stumm“) des Bandes berührte orte von Ulrike Draesner, erschienen im Luchterhand Verlag. Und ja, dieses Buch würde ich am Welttag des Buches verschenken!
Petra Ganglbauer © Alain Barbero
Wuchtige, kantige, bewegende Sprachsequenzen sind das, die mich auch nach oftmaliger Lektüre immer wieder aufs Neue bewegen. Eine gekonnt kontrollierte Unruhe zieht sich durch die Gedichte – gleich einer fortwährenden Reise im Aussen wie im Innen. Das Tempo, die Dichte, der Sprachschatz, welche allesamt Ulrike Draesners Lyrik inhärent sind, machen ihre Texte für mich so überzeugend.
Diese Gedichte zu lesen bedeutet sich mit Formgebung, Plastizität, Körperlichkeit oder Chromatik von Sprache auseinanderzusetzen – gleich einer Seele und Geist herausfordernden Wanderung auf einen steilen Berg oder eine schroffe Küste entlang. Ein äußerst spannendes Unterfangen!“
Ulrike Draesner: berührte orte. Gedichte, Luchterhand, München 2008, 128 Seiten, Euro 16,-
„Siljarosa Schletterer ist ein Glücksfall für die Dichtung, denn sie hat sich ganz der Poesie verschrieben. Dabei bleibt sie absolut authentisch und wahrhaftig – wann darf man das schon behaupten? In ihrem Buch azur ton nähe hat sie sich auf eine Suche begeben, die das Leben grundsätzlich defniert: jener nach Wasser.
Michael Stavaric © Lukas Beck
Dabei gelingt ihr eine poetische Kartografierung dieses Elements, wie es sie selten gab.
Siljarosa Schletterer – das ist Bewußtwerdung und Verinnerlichung par exellance. Und klar doch, man kann ihre Gedichte persönlich mögen – oder auch nicht: Großartig, zeitlos und bedeutsam bleiben sie für mich trotzdem!“
Die wesentlichen Partikel tauchen aus der Fließbewegung auf und lassen oft nur zwei drei Wörter erkennen, ehe sie in der nächsten Wasserwalze verschwinden. jeder fluss hat eine seele; die gefahr der ruhigen gewässer liegt im schlummern der dunkelsten gedanken; was heute überschwemmung genannt wird, war früher ein festtag; manchmal zieht der regen seine rüstung an und lässt die welt zerstörung fühlen.
Siljarosa Schletterer: azur ton nähe. flussdiktate. Gedichte, mit Bildern von Franz Wassermann. Limbus Verlag, Innsbruck 2022, 96 Seiten, Euro 15,00
„Federn, Felle, Krallen, Klauen. Der Carolinasittich, der Beutelwolf, Heidehennen, Wandertauben, auch von Meerottern, Seebären und Elefanten ist die Rede, und vom letzten Dodo, den es jemals gab.
Isabella Feimer © Manfred Poor
Liest man Mikael Vogels außergewöhnliche Gedichte in „Dodos auf der Flucht“, das den Untertitel „Requiem für ein verlorenes Bestiarium“ trägt, darf man ahnen, was es heißt, Tier zu sein, bedroht, gejagt, gesammelt, ausgestellt und ausgestorben. Feinfühlig nähert sich der Dichter den Habitaten des Tierischen an, füllt sie mit Geschichte und Geschichten und lässt uns Lesende über die Vielfalt des Gewesenen nachsinnen, vor allem aber staunen. Gleichsam klagt er uns, die wir Menschen sind, mit kraftvoll poetischer Stimme an und zwingt uns, Stellung zu beziehen und mitzufühlen. Mit Dodos auf der Flucht, 2018 im Verlagshaus Berlin erschienen, ist Mikael Vogel ein wundersames Werk gelungen, das den gewohnten Blick auf Tier und Mensch verdichtet durcheinanderwirbelt.“
Mikael Vogel: Dodos auf der Flucht. Requiem für ein verlorenes Bestiarium. Verlagshaus Berlin 2018, 252 Seiten, Euro 17,90
„TERRAFERMA als Lese- und Geschenkinspiration, und als Reiseführer in Versen entlang der Wasseradern Norditaliens. Der Fluss, die Poesie und das Radfahren haben einiges gemein: der Gedicht-Rhythmus mischt sich mit dem der Räder, die lyrische Stimme mit der des jeweiligen Flusses.
Barbara Pumhösel © Paolo De Nicola
Hannes Vyoral knüpft ein Netz aus persönlichen Flusserinnerungen (Lèmene, Sile, Etsch, Po, Brenta, Isonzo), klingenden Ortsnamen und en passant gesammelten Eindrücken. Manchmal taucht genau an der richtigen Stelle ein Endecasillabo an die Oberfläche – oder ein Distichon – und macht weitere und literarische Verbindungen sichtbar.
TERRAFERMA als Zufluchtsort, wenn der Boden unter den Füssen schwankt.
TERRAFERMA weil die Bilder von Julian Taupe die Texte berühren wie ein Fluss seine Ufer, der ganz eigene warme Braunton und das Blau auf dem Munkenpapier synästhetische Erlebnisse ankündigen und die in die Gedichtzeilen eingeschriebenen Farben mit den Lithos in Dialog treten und beim Lesen neue Bilder entstehen lassen.
TERRAFERMA ist ein Festland-Titel, um ihn herum viel Wasser in und zwischen den Versen: Kanäle, Brunnen, Reisfelder. Überschwemmungen. Und Frösche. Und auf der Rückenklappe noch ein wasseralfabet.
Hannes Vyoral: TERRAFERMA. Mit Offsetfarblithografien von Johann Julian Taupe. Edition Thurnhof, Horn 2024, 24 Seiten, Euro 27,-
Mit der „Lomeise auf der Schreibschulter“ zieht das lyrische Ich Kreise im Wasser mit jedem Steinchen, das es wirft. Es formen sich Ringe des Erinnerns, gespeist aus Bewegung, dem Stillstand entkommend. Gewellt aus Kindheit und dem Später, dem Immer ein Danach. Die Lomeise fragt, „Wann hat dich zuletzt jemand zugedeckt?“
Evelyn Bubich © Autorin
Nachwasser ist eine Umarmung. Das Fell, das sich um den Zweifel legt, wie Frieda Paris’ Langgedicht sich um mich legt.
Fundgeständnisse am Grunde eines Gewässers. Ein Kassabon von der Tankstelle, der verlorene Ehering der Mutter, der Moment, als das Schreiben mich traf, die Augen einer Katze in den Lichtdurchlässen eines Vorhangs.
Eine Liebeserklärung an den Akt des Schreibens, an die Wortmütter, in die das Wasser, der Fluss der Sprache fließt und wieder aus ihnen heraus, an das Sehnsüchten nach dem (Verborgen-)Bleiben. Was darf ein Gedicht? Eine Liebe sein, die bleibt. „Mein Vogel auf Treu“ (Ingeborg Bachmann)
Wie kommen die Kreise ins Wasser? Vielleicht weiß die kluge Lomeise zu antworten.
Frieda Paris: Nachwasser. Lyrik. AZUR, Voland & Quist, 2024, 136 Seiten, Euro 22,-