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Monumental

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Klaus Ebner liest Peter Paul Wiplingers
Lyrik. 1000 ausgewählte Gedichte


Der neue Band Lyrik. 1000 ausgewählte Gedichte 1960 bis 2023 von Peter Paul Wiplinger ist eine Anthologie. Die Gedichte wurden aus insgesamt über sechstausend ausgewählt, wie im Nachwort zu lesen ist, und ich konnte in Erfahrung bringen, dass etwa hundertfünfzig davon bisher unveröffentlicht sind. Bei der Kollektion handle es sich übrigens nicht um ein „Best of“, sondern um Texte, welche die zentralen Themen und Beweggründe des literarischen Schaffens während dreiundsechzig (!) Jahren zeigen.

Ein Buch also der Herzensthemen des Autors und somit auch ein Buch über den Menschen Peter Paul Wiplinger.
Geboren 1939 in Haslach im oberösterreichischen Mühlviertel, studierte er Theaterwissenschaften, Germanistik und Philosophie in Wien. Unterschiedliche Tätigkeiten, wie Tankwart oder Werbetexter, markieren seinen (brot)beruflichen Einstieg.

Cover © Löcker Verlag

In den 1980er Jahren übernahm er die Leitung einer Kunstgalerie, und als künstlerischer Fotograf bestritt er Ausstellungen im In- und Ausland. Wiplinger veröffentlichte an die sechzig Bücher, in erster Linie Lyrik, aber auch Essayistisches, und engagierte sich jahrelang im österreichischen P.E.N.-Zentrum und in der IG Autorinnen Autoren.

Es scheint mir angebracht, den vorliegenden Lyrikband als „monumental“ zu bezeichnen, und das hat keineswegs damit zu tun, dass man dieses dicke und großformatige Buch im Wienerischen salopp als „Ziegel“ bezeichnen könnte – wozu im Übrigen auch die rote Farbe passte! Es ist eine Kurzfassung des Lebenswerks. Nicht mehr und nicht weniger.

Da alle Gedichte mit einem Datum versehen sind – zumeist ein Tagesdatum, in manchen Fällen nur Monat und Jahr –, lässt sich eine Entwicklung der Texte und des Schreibenden ablesen.

Miterlebbare Entwicklung

Das erste Gedicht, „ERWACHEN“, hat mich überrascht, weil es so gar nicht typisch ist für den Autor. Es ist eben ein ganz frühes; lauter vierzeilige Strophen in ganz regelmäßigem Sprachrhythmus, bei denen jeweils der zweite Vers mit dem vierten reimt. Eine derartige Regelmäßigkeit und Reime sind bald darauf nicht mehr zu finden. Einer der Texte nimmt nämlich auf Adornos Aussage Bezug, man könne nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben, und aus diesem Verständnis heraus wollte Wiplinger weder mit Sprachspielereien noch mit übertriebener Ästhetik oder kryptischen Metaphern etwas anfangen.

Der zweite Text im Buch, „LEBENSGEFÜHL“, dürfte einen der ersten Eindrücke in der Stadt Wien widerspiegeln, denn er stammt vom Dezember 1960, und das ist das Jahr, in dem der junge Wiplinger in die Hauptstadt umzog.

Inmitten von Mauern,
die mich erschauern,
stehe ich verloren
in dieser Welt.

Ebenfalls auffällig sind Großschreibung und Satzzeichen – auf diese dürfte der Autor dann schon im Laufe des Jahres 1962 verzichtet haben; das heißt, er fand sehr früh zu einem typischen Schreibstil, der ihn bis heute begleitet.

Viele der frühen Gedichte wirken auffällig lyrisch; es handelt sich um Landschaftseindrücke, Emotionen und Liebesgedichte. Bei Letzteren schwingt jedoch häufig der Abschied oder die Furcht davor mit; Verlieben, Trennung, Rückkehr im Traum oder im wirklichen Leben und die wohl schmerzliche Erinnerung. Obwohl jeder Text einen Titel trägt, sind viele der Liebesgedichte einfach nur lapidar mit „LIEBESGEDICHT“ überschrieben.

Früh setzen die Hauptthemen des Autors ein. Dazu gehört die Erinnerung an die Kriegszeit ebenso wie an Familienmitglieder, die nicht mehr zurückkamen. So etwa „ICH SUCHE DICH“ von 1963:

ich suche dich
in meiner hohlen hand

in meinen vergessenen
kinderliedern

ich suche dich in einem
der 20.000 kriegsgräber
in der Normandie
(…)

Stilistisch sind die meisten der im Buch enthaltenen Gedichte quasi aus einem Guss. Es sind die freien Rhythmen, der Verzicht auf Großschreibung und Satzzeichen und spontane, klar verständliche Formulierungen, die ein typisches Wiplinger-Gedicht ausmachen. Der Autor nannte die Dinge stets beim Namen; das war, wie sich hier zeigt, schon am Anfang so und setzt sich bis heute fort. In den späteren Gedichten sind jedoch immer öfter Enttäuschung, Bitterkeit und damit verbunden ein gewisser Zorn zu spüren. Es ist der Zorn über die Unbelehrbarkeit der Menschen und die mögliche Aussichtslosigkeit eines Eintretens für Respekt, Frieden und Menschlichkeit.

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Lebenslange Themen

Peter Paul Wiplinger prangert den Krieg an, politische Extremismen, Verfolgung und Ungerechtigkeit. Und er fordert Respekt gegenüber anderen und Andersdenkenden. Das überraschend lange Gedicht „WAS SCHREIBEN – WAS TUN“ von 1995 nimmt zu seinen Überlegungen über die Macht und Ohnmacht des Wortes den Jugoslawien-Krieg als Ausgangspunkt, nennt Auschwitz, Mauthausen und Treblinka ebenso wie Verdun, Stalingrad und Coventry oder das My-Lai-Massaker in Vietnam. Dabei wird auch Peter Handke geschickt aufs Korn genommen, der im Jugoslawien-Krieg unverhohlen den serbischen Machthaber Slobodan Milošević unterstützte, welcher die mörderischen Auseinandersetzungen losgetreten hatte.

(…)
mit sprache mit wort
etwas wirklich tun gegen
den mißbrauch der macht
gegen gewalt zerstörung
folter und mord gegen den krieg
was handeln was reden
was denken was schreiben was tun
was zählt schon „Die Angst des
Tormanns beim Elfmeter“
gegen die angst all jener
die ausgesetzt sind der gewalt
da massakrieren
die Tutsis die Hutus
und die Hutus die die Tutsis
und schon wieder einmal
ist ethnisch gesäubert ein land
ein beinamputierter junge
vielleicht erst drei jahre
humpelt auf krücken
(…)

Der Schluss des Gedichtes klingt in seiner resignativen Schwermut ehrlich und bescheiden:

(…)
ich weiß nur eines schreiben allein
ist zu wenig handeln ist nötig
doch weiß ich nicht wie

Wiplingers Buch bietet eine ungeheure Fülle an lyrischen Wortmeldungen. Neben der wiederkehrenden Geißelung einer kriegerischen Welt sind es Erinnerungen an die Kindheit, gefühlvolle Nachrufe an verstorbene Geschwister und Freunde, zarte Liebesgedichte, eine unbändige Lebenslust, Eindrücke der geliebten Stadt Rom und, schließlich, die schmerzliche Auseinandersetzung mit der eigenen Krebserkrankung. „HERZSTATION“ von 2006 reicht über fünfzehn Seiten; alle Verse laufen nach dem Muster „die sterotype antwortlosigkeit / das zurückbleiben allein / das denken an vorher“, doch inhaltlich spannen sie einen Bogen vom alles umklammernden Aufenthalt im Spital über all die Themen, die in den zahlreichen Büchern vielfach und intensiv besprochen werden.

Auf ganz eigenartige Weise berührte mich „DER KOFFER MEINES VATERS“ von 2016, das interessanterweise, womöglich an die Anfänge anspielend, wieder mit Großschreibung aufwartet:

Seit 36 Jahren steht
der Koffer meines Vaters
nun schon ungeöffnet
in meinem Keller.
Jetzt, da ich schon fast
genauso alt bin wie er,
als er damals fortging
mit seinem kleinen Koffer
ins Spital, werde ich
diesen alten Koffer öffnen,
weil ich wissen will,
was ich mitnehmen muß
ins Spital, wenn es
ans Sterben geht.

Jetzt, in seinen wahrscheinlich letzten Tagen, Wochen und Monaten arbeitet Peter Paul Wiplinger unermüdlich an seinem Werk; er schreibt, ordnet, organisiert, publiziert und bringt, trotz seiner gesundheitlichen Probleme, die ihn enorm einschränken, ein Buch nach dem anderen heraus. Dazu können wir nur in aller Demut Danke sagen.


Peter Paul Wiplinger: Lyrik. 1000 ausgewählte Gedichte 1960–2023. Löcker Verlag, Wien, 2024. 653 Seiten. Euro 34,80

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