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Blickrichtungen und Einschlüsse

Blickrichtungen und Einschlüsse

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Helmuth Schönauer liest Georg Bydlinskis Blättervogel


Ein richtig zusammengesetztes Wort kann in der Lyrik so etwas wie eine poetische Kernschmelze auslösen. „Blättervogel“ ist eine geniale Wortkomposition, im direkten Bild verschwindet darin ein Vogel im Blattwerk, im übertragenen Sinn geht der Vogel, lyrisches Urbild für den Flug der Zeit, in den Blättern eines Gedichtbandes auf.

Georg Bydlinski spielt in seinen Gedichten mit den Scherwinden des Blicks, die oft auftreten, wenn man einem Bild zu nahe tritt. Mit der knappen Bezeichnung „Blick“ ist dieser magische Vorgang umschrieben, der letztlich zu einer neuen Sicht auf den Tag, wenn nicht gar zu einem Gedicht führt.

Cover © Edition Tandem

Blick

(…) 
dass ich die Welt erkenne
mit neuen Augen

sie begreife 
mit Sprache 
wie mit meiner Hand

Die drei „Erkenntnisvorrichtungen“, die zu einem lyrischen Konzentrat führen, sind in diesem Gedichtband mit den Kapiteln überschrieben: „Mitsprache“, „Einschlüsse“, „Südwärts“. Einmal ist es das lyrische ich, das sich intim in die Öffentlichkeit einmischt, sei es durch Lektüre oder „Fang | Fund“, wie die Doppelseite 10/11 angelegt ist. „Einmischen“ und „Einwirken lassen“ sind dann auch die zwei Kanäle der Mitsprache. Zum andern werden rätselhafte „Einschlüsse“ vorgestellt, wenn etwa in einem Acker ein Schatz eingeschlossen bleibt, während an seiner Oberfläche die Fruchtfolge gepflegt wird. Aber auch die beiden Gedichte „Mutter, nach dem Schlaganfall“ und „Mutter, zuhörend“ handeln von Einschlüssen, die sorgfältig umhegt werden müssen, will man sich auf ihre Botschaften einlassen.

Der dritte Erkenntniszugang besteht aus einer schlichten Richtungsangabe „südwärts“, wobei der optimistische Klang des Wortes „Süden“ in Reisebildern in Erfüllung geht. In einem Bogen, eins bis zwölf und zwölf bis eins, wird eine Bewegung angedeutet, in der sich das Ich auf den Weg macht, um verlässlich wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren zu können. Der Ausgangspunkt ist dann auch das Ende des Bandes, der mit dem unverwechselbaren Glücksgeräusch endet: „Katzenschnurren: daheim“ heißt es wieder bei eins angekommen am Ende von „südwärts“.

Sensitive Chronik

Den Gedichten liegt freilich eine Art sensitive Chronik zugrunde, wenn das lyrische Ich in verdichteten Tagesnotizen den Zufall überwindet durch Konsequenz, es gilt nämlich wach zu sein und geduldig. Hier drei Beispiele:

(…) 
dreht sich die Welt weiter
mit mir und meinem Buch
und ich entdecke sie
 - nur zeitweise eingeklammert – 
nach der Lektüre 
wie neu

Und:

Urlaubschronik

An jedem Tag hier
ein Gedichtbuch gelesen – 
welch schönes Zeitmaß

Und:

Licht auf dem Wasser
Schau schnell
da ist’s 
schon wieder 
fort

Bei all dem regelmäßigen Registrieren und poetischem Kommentieren kann es schon passieren, dass jemand plötzlich siebzig ist.

See Also

Das Wesentliche 
sagst du 
ist schon vorbei 

Das Wesentliche 
schweig ich 
kann nie 
vorbei sein

Meta-Gedicht aus Fotografien

Ähnlich diesem Dialoggedicht sind die Fotografien von Birgit Bydlinski zu sehen, die sechzehn Fotos sind im Überblicksverzeichnis als „Foto-Motive“ ausgewiesen, sie ergeben für sich gelesen eine Art Meta-Gedicht.

Turmspitze in Wolken 
Krähe im Baum 
Blättervogel 
Abendlichter 
Baum und Teich im Oktober 
Wasser und Stein 
Blick vom Ufer 
Buchhaus 
Steinornament

Bilder und Gedichte stehen in permanentem Diskurs, wie man so schön sagt, wenn sich aus zwei Einspeisungen eine neue Substanz ergibt. Dabei verschmelzen lyrische Formen wie das Haiku mit dem Bildlichen, wie es das Ornament darstellt. In aller Verknappung bleibt jeweils genug Platz, um als Leser auszuschweifen – über Text, Bild und Buchrand hinaus.

Ein karger Epilog versucht diesen weiten Blick noch einmal zu fokussieren, aber selbst das deklarierte Ende ist schon unwiederbringlich in das offene Gedankenfeld übergegangen. Der Vogel ist im Blattwerk verschwunden.

Epilog

Lyrikband 
Vogel aus Blättern

Georg Bydlinski: Blättervogel. Gedichte. Fotografien von Birgit Bydlinski. Salzburg, Wien: Edition Tandem, 2024. 72 Seiten. Euro 18,–

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