Lukas Meschik liest Srečko Kosovels Gedichte / Pesmi
Es ist ein schmaler Band, den der Wieser Verlag als Teil seiner Slowenischen Bibliothek zu Srečko Kosovel vorlegt, doch der geringe Umfang mindert nicht die Schlagkraft der präsentierten Gedichte. Es handelt sich um den Nachdruck eines Büchleins, das bereits 1988 erschien, eine erste Auswahl von Übersetzungen Ludwig Hartingers, der sich nicht zuletzt um die slowenische Literatur als Brückenbauer verdient gemacht hat und dafür 2022 mit dem Übersetzerpreis Lavrin-Diplom ausgezeichnet wurde.
Zu Kosovel selbst, dem „Dichter des Karst“ sollte man wissen, dass er 1904 in Sežana geboren wurde und bereits 1926 an den Folgen einer schweren Hirnhautentzündung starb. Er studierte Romanistik, Slawistik, Kunst- und Literaturgeschichte, war Gründer literarischer Zirkel, Herausgeber und Mitarbeiter verschiedener Zeitschriften.
Cover © Wieser Verlag
Trotz seines kurzen, entbehrungsreichen Lebens schuf er ca. 1400 Gedichte und 80 Prosagedichte, auch später entdeckte Essays, Briefe und Tagebücher liegen vor. Die Sammlung Gedichte / Pesmi ist also tatsächlich ein „erster Schritt Erkundung, Grenzüberschreitung“, die „zu weiterer anregen möchte“, wie Ludwig Hartinger in seinem Nachwort schreibt. Man erhält einen Überblick, bekommt eine Idee davon, welcher Mittel und Motive sich Kosovel bediente, diese machen Lust auf tiefere Ergründung seines Werks.
Konstruktivistische Verfahren
KONS. 5 Mist ist Gold und Gold ist Mist. Beides = 0 0 = ∞ ∞ = 0 A B < 1, 2, 3. Wer keine Seele hat, braucht kein Gold. Wer eine Seele hat, braucht keinen Mist. I A.
Mehrere von Kosovels späteren Gedichten sind mit KONS betitelt, mal nummeriert, mal für sich stehend. Sie zeigen eine aus konstruktivistischen Verfahren entwickelte Schreibweise, die wie im hier angeführten Beispiel oft sehr technisch und abstrakt ausfällt. Auch in seinem Tagebuch sind ähnliche Gleichungen zu finden, wenn er etwa angibt: „Energie = ∞ / Verzweiflung = dreimal pro Woche“ usw.
Was bei den Gedichten auf den ersten Blick wie eine nichtssagende Spielerei erscheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als luzide Methode der Verdichtung. Beachtlich ist dabei, wie Kosovel in nur wenigen hingetupften Zeilen gleichzeitig Melancholie und frechen Witz entwickelt, was einen sofort einnimmt für dieses vorlaute, vor Geist sprühende lyrische Ich. Diese Stimme, die da geistreich und rastlos zu uns spricht, klingt zwar verzweifelt, aber hungrig auf die Welt.
GEDICHT Nr. X (...) Durchs Dach spür ich Lindenduft. Vrck, Vrck, Vrck, Vrck verrecke Mensch Mensch MENSCH. Um 8 Uhr ist die Vorlesung über Menschheitsideale. Zeitungen bringen Fotos von bulgarischen Gehenkten. Und die Leute – ? Lesen und fürchten Gott, Gott aber ist ausser Dienst.
Sind Bücher, ist das Schreiben und Lesen ein Ausweg?
Bei Nietzsche (mit dessen Werk Kosovel vertraut war) ist Gott ja gleich tot, Kosovel stellt ihn gnädigerweise bloß „ausser Dienst“, was eine Rückkehr in ebendiesen Dienst in Aussicht stellen würde und einen kleinen Hoffnungsschimmer verspricht. Er erzählt damit von einer gottlosen, für ihn aber wohl noch nicht ganz hoffnungslosen Welt. Als Menschen der Gegenwart können wir die Verwerfungen des letzten Jahrhunderts nicht im Mindesten nachvollziehen, zu den künstlerischen Zeugnissen von vor hundert Jahren nur stumm nicken.
Sind Bücher, ist das Schreiben und Lesen ein Ausweg? Das waren sie nie und waren sie immer. Bei Kosovel klingt im Gedicht „REIME“ diese Desillusioniertheit von den Mitteln der Poesie bitter an:
Reime haben ihren Wert verloren. Reime überzeugen nicht. (…) Alles hat seinen Wert verloren. Das weiße Meer der Frühlingsnacht ergießt sich über Felder, Gärten. Ahnung von Zukunft zieht an uns vorbei.
Auch hier wieder eine trotzige Hoffnung: Nicht einmal die Zukunft selbst begegnet uns, aber immerhin eine „Ahnung“ von ihr, wenn sie auch an uns „vorbeizieht“. Von dem Vorbeiziehenden dürfen wir immerhin einen Blick erhaschen. Und – wer weiß – vielleicht atemlos die Verfolgung aufnehmen, wenn unsere Kraft dafür noch reicht. Das vielleicht eindrücklichste, erschütterndste, wahrhaftigste Gedicht der Sammlung sei hier zur Gänze wiedergegeben.
Ein poetischer Kontinent
KONS Müder Mensch Europas schaut traurig in den goldenen Abend, der noch trauriger ist als seine Seele. Karst. Die Zivilisation ist ohne Herz. Das Herz ist ohne Zivilisation. Erschöpfter Kampf. Evakuierung der Seelen. Der Abend brennt wie Feuer Tod Europas! Erbarmen! Erbarmen! Herr Professor, verstehen Sie das Leben?
Wer sich darin nicht wiedererkennt, der hat nichts verstanden. Spätestens jetzt denken wir an einen weiteren europäischen Dichter, der bereits in sehr jungen Jahren all sein poetisches „Feuer“ verschoss: Arthur Rimbaud. In „Une saison en enfer“ („Eine Zeit in der Hölle“) heißt es: „Seht, wie das Feuer auflebt! / Ich könnte nicht besser brennen.“ Bei Kosovel wiederum brennt der Abend. Mit diesem „KONS“ hat er dem „müden Menschen Europas“ ein todtrauriges Denkmal gesetzt. Wie bereits vor hundert Jahren zeichnet sich auch heute ein „Tod Europas“ ab, jedenfalls eine Zäsur, eine Weichenstellung der Geschichte – dass es keine kriegerische sein wird, bleibt anzunehmen, dass es verheerende politische Umbrüche sein werden, ist allerdings zu befürchten.
Wir Buchmenschen, schreibend und lesend, laufen zu den Professoren und Experten auf der Suche nach Einordnung und Erklärung – aber, um es mit Kosovel zu sagen: „Verstehen sie das Leben?“. Diese Frage ist berechtigt. Kosovel hat sie zu stellen gewagt, nicht zuletzt sich selbst. Da Gott bekanntlich außer Dienst ist, sollten wir nicht ihm dafür danken, dass Kosovels Werk in deutscher Sprache zugänglich gemacht wird – sondern seinem Übersetzer Ludwig Hartinger und dem Wieser Verlag. Kosovel ist ein poetischer Kontinent, auf dem noch viel zu entdecken bleibt.
Srečko Kosovel: Gedichte / Pesmi. Slowenisch – Deutsch. Übersetzt von Ludwig Hartinger. Wieser Verlag, Slowenische Bibliothek 2023, Klagenfurt / Celovec, 2024. 62 Seiten. Euro 24,–