Lukas Meschik liest Frieda Paris’ Nachwasser
Was darf ein Gedicht, darf es alles? Das fragt Frieda Paris mehrmals in ihrem Langgedicht Nachwasser, das als Lyrikdebüt in der edition azur von Voland & Quist erschienen ist. Beantwortet wird diese Frage in einnehmend ausufernder Weise, ganz im Sinne der großen „Wortmutter“ Friederike Mayröcker, die dafür Pate stand und mit diesem Band eine würdige Hommage erhält. Die Autorin kannte Mayröcker persönlich, gewährt kleine Einblicke in Briefwechsel; der Tod Mayröckers im Jahr 2021 war einerseits ein Schock, andererseits vielleicht die Initialzündung, auf den Spuren der Dichterin den eigenen Weg einzuschlagen.
Paris begibt sich auf eine Expedition in fremde Überbleibsel, durchforstet akribisch den Nachlass im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, mit besonderem Augenmerk auf die „Rückseiten“ der Postkarten, Erlagscheine, Schmierzettel – aber auch des anderen und eigenen Lebensverlaufs, der sich aus bruchstückhaften Kindheitserinnerungen speist.
In einhundertelf fein komponierten Abschnitten wohnen wir der Geburt eines poetischen Werks bei, wir „lauschen“ dem Zweifel und haben Teil am Austesten und Verwerfen von Ideen. Mit Nachwasser findet Paris eine Form, die den Entstehungsprozess einer künstlerischen Arbeit nicht nur beschreibt, sondern uns dabei fast schon in den Kopf der Künstlerin schlüpfen lässt.
Cover © edition azur
18 Was darf ein Gedicht, darf es alles? ich trage euch meine Frage entgegen, wie etwas nicht zu Verlierendes durch Wasser an Land trage die Frage wie eine Schale voll Beeren, mit denen ich dich und mich sanft füttern möchte
Ein Gedicht darf alles
Die von Mayröcker verkörperte Poetologie basiert darauf, dass ein Gedicht natürlich alles darf und alles kann – auch sich in Prosa verwandeln –, aber nichts soll oder muss. „Verkörperung“ ist hier wörtlich zu verstehen, zwischen Schreiben und Leben besteht kein Unterschied, das eine geht nahtlos ins andere über; Mayröcker ging darin auf, ganz von Sprache durchdrungen zu sein. Auch Paris nimmt für sich in Anspruch, die Grenzenlosigkeit der Poesie hochleben zu lassen, der Inhalt ist dabei mitgemeint. Hier lauert eine große Gefahr, denn wo es um „alles“ gehen kann, und das in jedweder Form, dort kann es rasch um „nichts“ gehen, ohne Leitplanken rauscht es sich zwar frei über die Sprachautobahn, wenn man aber die Kontrolle verliert, gerät man aus der Spur. Paris kennt und bekennt diese Gefahr und findet souveräne Mittel, ihr zu entgehen. Es sind eine Handvoll Hauptmotive, sprechende Bilder, die dem poetischen Bewusstseinsstrom seine klare Form geben, den Rahmen, ohne den alles ins Nichts suppen würde.
Anfangs erscheint ein Vogel, der für den restlichen Verlauf des Projekts der Autorin neugierig über die Schulter schaut und als Adressat für Monologe fungiert. Immer wieder ist vom Schneidetisch die Rede, auf dem die Spracharbeit stattfindet – was auf die Ausbildung zur Damenschneiderin anspielt, die Paris absolvierte, und sich in die angewandte Technik des Collagierens fügt. Wiederkehrender Schauplatz ist das Archiv samt Lesesaal, wiederkehrende Fundgruben sind die durchforsteten Archivboxen und nummerierten Mappen.
(…) ich ließ die Rückseiten sein, obwohl ich Archivboxen (W24 und W25) vorbestellt habe. ich schrieb, dass ich bald wiederkäme nein, ich schrieb nicht, ich antwortete, Betreff: Materialien aus dem Mayröckerbestand auf die freundlichen Fragen, ob die bereitgestellten Boxen wegen Jahreswechsel ins Depot retourniert werden dürfen oder im Lesesaal bleiben sollen (…)
Durchgehend eingestreut sind Zitate von Kolleginnen und Kollegen, Stichwortgebern, die das Projekt weitertreiben; oder, wie es im Buch heißt: „und von Funden derer, die ich Wortmütter nenne / (Väter eher selten)“. Neben der omnipräsenten Übermutter Mayröcker begegnen wir Dauerbrennern wie Ingeborg Bachmann, Paul Celan oder Hertha Kräftner, aber auch Überraschungsgästen wie Marilyn Monroe. Auch die bereits erwähnte Frage nach dem Dürfen oder Nichtdürfen eines Gedichts zieht sich als roter Faden durchs Buch, in dessen Verlauf wir erfahren, dass ebendiese Frage Teil der gesichteten Korrespondenz ist. All diese Komponenten sind es, die als Begrenzungsobjekte fungieren und diesem wild sprudelnden Nachwasser ein Bett geben, auf dem wir ergiebig mitschwimmen können.
25 was darf ein Gedicht, darf es alles? JA, es darf alles die Antwort der Großen Wortmutter an mich, briefgerichtet (3.1.2017) ich möchte nur noch von den Wortmüttern lernen
Nachwassern heißt Nachfragen
Auch der Buchtitel selbst ist Anlass anhaltenden Zweifels, etwa zur Halbzeit (auf Seite 76) bekennt das lyrische Ich, es suche nach einem Synonym für das gewählte Wort, „für das, was ich hier mache“, nachdem einer gesagt habe, dass „Nachwasser“ für ihn wie „Nachgeburt“ klinge; ein anderer sage, „er denke an Urin, der nachtropft“, schlussendlich sage einer, „man verwende nachwässern auch für / nachschärfen, er kenne es aus dem Arbeitskontext“. Der Rezensent kann diesen Zweifel nicht ganz begreifen, ist doch „nachwassern“ ein gebräuchlicher Ausdruck für das erneute, hartnäckige Nachfragen, die Substantivierung zu „Nachwasser“ leuchtet sofort ein als glückliche Wortschöpfung, handelt es sich bei dem hier zelebrierten Hochamt doch eben um ein liebevolles „Nachwassern“ ins übermächtige Lebenswerk einer Weltdichterin. (Dieser „eine“, der „nachwässern“ im Arbeitsumfeld mit „nachschärfen“ gleichsetzt, müsste das schon sehr gut begründen und mit Beispielen untermauern können. Manchmal geraten Mansplainer auf den Holzweg.)
(…) mit Archiven arbeiten heißt, dem Zufall vertrauen, darauf gefasst sein, dass es lange dauern kann, alles das Werk der Großen Urmutter verweist auf sein Material, auf ihres, auf Prozesse des Schreibens
Der umfangreiche Nachlass Friederike Mayröckers wird mit Sicherheit von hochrangigen Expertinnen und Experten betreut und akribisch aufgearbeitet – wohlgemerkt wissenschaftlich. Es ist allerdings nur folgerichtig und wünschenswert, dass das Lebensmaterial (gleichzusetzen mit dem Sprachmaterial) einer Poetin eben zusätzlich auch mit den Mitteln der Poesie bearbeitet wird. Dieses andere „Nachwassern“ fördert viel zutage, was die Möglichkeiten der Wissenschaft sprengt. Paris hat diese Aufgabe mit Bravour gemeistert – und erfunden, dass es eine solche Aufgabe überhaupt gibt. Was als Hommage für die vielbeschworene „Wortmutter“ beginnt, entwickelt sich zur völlig eigenständigen künstlerischen Position, die schlussendlich ganz aus eigener Kraft abhebt und zu fliegen beginnt. Spätestens beim Ausplätschern des Buches auf den letzten Seiten wird klar, dass Frieda Paris die literarische „Tochterschaft“ längst abgestreift hat und zur völlig eigenständigen, prägnanten lyrischen Stimme avanciert ist.
Frieda Paris: Nachwasser. Voland & Quist, edition azur, Berlin, 2024. 136 Seiten. Euro 22,00,-