Stefan Schmitzer liest Mira Magdalena Sickingers
FÜR EUCH VERGOSSEN
Dem Untertitel nach handelt es sich bei den dreiundvierzig Gedichten (plus Vorrede) in Mira Magdalena Sickingers Lyrikdebüt FÜR EUCH VERGOSSEN um eine „POESOPHIE“ – also wohl etwas wie Spracharbeit, die genau zwischen den Stühlen der Philosophie als akademischem Fach und der zeitgenössischen Lyrik sitzt. (Oder werden wir dem Band gerechter, wenn wir den ersten Teil dieses Worts vom Griechischen her denken – was bedeuten würde, die Autorin mache die Philosophie, also: stelle sie überhaupt erst her? – Anyway!)
Die Texte haben eine Anzahl an Requisiten, Schauplätzen, Themen, Motiven gemeinsam, zuvorderst die verschiedenen Körperflüssigkeiten, die in den meisten von ihnen fließen. Dann ist da die als Motiv wiederholte und variierte Zusammenschau oder Gegenüberstellung von stets individuierten Körpern mit uniformiert-idealisierten Kollektiven, denen auch immer etwas vage Klösterliches anhaftet.
Cover © Klever Verlag
Spezifiziert oder elaboriert wird diese Gegenüberstellung in denjenigen der Gedichte, in denen eine wiederkehrende Romanze, angesiedelt ungefähr im Wien der Gegenwart, als Projektionsfläche für Figuren, Texte, Sachverhalte aus dem (nicht von Sickinger selbst) so genannten „westlichen Kanon“ dient – hier die Körper, da die jeweilige geistesgeschichtliche Referenz, vom Autor der Psalmen über Novalis zu Wittgenstein – und immer wieder Bachmann:
SCHWIMMEN, BACHMANN september (aus dem flusse) harte videos am monitor staub auf meiner heißen motorhaube die freyung dampft mitte september ich habe keinen lauen abend in einem heurigen verbracht meine freunde sehen mich nicht meine bilder bleiben sieben monate in klosterneuburg verwahrt von dort hole ich sie stromaufwärts treibe ich zurück gegen den verkehr den schottenring hinauf vorbei an der universität dem burgtheater werfe ich mich in den theseustempel in dessen rumpf ich mich auflöse die weißen planken verfärbend
Fluide Identitäten und ichlose Texte
Identität bei Sickinger ist sowohl fluide als auch als Konzept den Flüssigkeiten zugeordnet, denn sie ist in der Setzung dieses Bandes, wie diese, eine Eigenschaft lebendiger Körper. Das allein Festgeschriebene dagegen muss, weil und insofern es ichloser Text ist, paradoxerweise stets aufs Neue heraufgerufen, gelesen, angeeignet werden – muss in die Körper hinein, um aus ihnen zu sprechen. Unausgesprochen (zumindest unausgesprochen, soweit der Rezensent wahrnimmt) wirkt hier die Annahme, dass mit Philosophie (und überhaupt Theorie) umzugehen wäre als mit der sowohl individuellen als auch geistesgeschichtlichen Fortschreibung von Mystik.
Die Frage, ob wir das der Verfasserin tatsächlich glauben – also: ob wir FÜR EUCH VERGOSSEN wie intendiert als „POESOPHIE“ lesen oder doch schlicht und nicht weniger würdevoll als Lyrik –, diese Frage entscheidet sich indes weder mit den „sinnlichen“ noch den „philosophischen“ Qualitäten der einzelnen Gedichte. Auf der Schaukel, die zwischen diesen hin und her schwingt, sitzt es sich bequem. Auch wenn, wie zu erwarten, nicht jeder Text beiden Anforderungen gleichermaßen gerecht wird, folgen wir der Bewegung von Sickingers Textsubjekten in diesem Spannungsfeld gern. Vielmehr fragt sich, ob und wie wir diesen allerersten Sätzen in der Vorrede zustimmen wollen –
wenn das mögliche einer wissenschaftlich beschreibbaren wirklichkeit entspricht, dann eröffnet die grenzüberschreitende erfahrung den zugang zum unmöglichen. wenn ich dieses nicht nur erleben will, wenn ich mich aus dem rein subjektiven erheben will, wie erfassen wir ein gemeinsames verständnis des lachens, des weinens, der sexuellen ekstase, des schmerzes, des guten, der liebe, des todes? ist uns hier kein sprachlicher ausdruck erlaubt, hilft uns die philosophie? (…)
Denn die Worte „grenzüberschreitend“ und „erlaubt“ leisten da wirklich viel Hubarbeit. Unsicher ist erstens, ob der Gedanke tatsächlich klar wird (also: ob, was klar wird, tatsächlich der Gedanke ist, auf den die Autorin hinauswollte); zweitens, ob er faktisch, in der Wirklichkeit außerhalb der Buchdeckel, auch wirklich zutrifft; und drittens, ob er tatsächlich benötigt wird, um das Unterfangen sozusagen zu untermauern.
Mit Schleimhäuten versehene Wirklichkeit
Nach Meinung des Rezensenten steht FÜR EUCH VERGOSSEN auch ohne den programmatischen Vorsatz ganz gut für sich selbst und ist als bloßes Elaborat der Kunstwelt nicht weniger reizvoll: Stationen der Geistesgeschichte, bemessen an einer mit mannigfaltigen Schleimhäuten versehenen Wirklichkeit … Und die Schleimhäute dienen zugleich als Metonymie-Maschine fürs Emotionale und „Höhere“, dabei sind sie zu überraschendem Detailreichtum fähig.
Langer Rede kurzer Sinn: Wer einerseits mit der Präsenz von Spucke, Blut, Urin, Tränen, Scheidenseim etc. und andererseits mit der Präsenz von zweieinhalb Jahrtausenden Denkgeschichte in den Lebenswirklichkeiten und Gedichten einverstanden ist, wird in diesem Band gut bedient werden.
Mira Magdalena Sickinger: FÜR EUCH VERGOSSEN. POESOPHIE. Klever, Wien, 2024. 70 Seiten, Euro 20,–