Jelena Dabic liest das Jahrbuch der österreichischen Lyrik 2022/23
Dass interessante Texte nicht sofort nach ihrem Erscheinen besprochen werden müssen, versteht sich wohl von selbst. Zumal, wenn es Texte verschiedener Autoren sind. Die vorliegende Anthologie, ein großformatiges und eher schwergewichtiges Buch mit augenfreundlichem hellgrünem Umschlag, ist als Jahrbuch österreichischer Lyrik 2022/23 betitelt und 2023 bei der relativ jungen Wiener Edition Melos erschienen. Die Reihe wurde von Alexandra Bernhardt begründet und wird von dieser herausgegeben. Genau genommen sind hier Texte der Jahre 2021 und 2022 enthalten.
Herausragende und solide Texte
Mit welchen Erwartungen geht man an eine Lyrikanthologie? Realistischerweise wird kein noch so erfahrener Leser, keine noch so fachkundige Leserin von jedem Gedicht der Sammlung begeistert sein können. Andererseits kann die Anzahl der herausragenden, aber auch der soliden Texte seine oder ihre Erwartungen weit übertreffen. Die allermeisten Anthologien dieses Typs sind so angelegt, dass sie Texte von arrivierten Autoren neben jene von wenig bis kaum bekannten stellen, bis hin zu sogenannten Hobbydichtern. Darin kann ein Problem solcher Textsammlungen liegen, muss es aber nicht.
Rein geografisch umfasst die Textauswahl Schreibende aus ganz Österreich samt Südtirol, einschließlich Autorinnen und Autoren, die aus Österreich stammen, inzwischen aber etwa in Deutschland leben. Ebenso sind Autorinnen und Autoren anderer Herkunft dabei, die ihren Lebensmittelpunkt in Österreich gefunden haben und zumeist auf Deutsch schreiben.
Cover © Edition Melos
Erwähnenswert ist schließlich auch noch die äußere Gliederung des Bandes: Für die Gedichte des Jahres 2021 hat sich die Herausgeberin für lateinische oder griechische Begriffe entschieden („Origo“, „Vanitas“, „Phantasma“), für jene von 2022 für deutsche („Wesen, Nacht, Spiel“ etc.), wobei deren Verbindung zu den darunter zusammengefassten Texten eher eine lose ist.
Naturmomente, Miniaturen
Geht man von der Natur als einem zentralen lyrischen Motiv schlechthin aus, so lassen sich in dieser umfangreichen Sammlung sehr bemerkenswerte Beispiele finden. So beschreibt etwa Harald W. Vetter sehr lebendig einen Sommerbeginn in Bayern, Eleonore Weber verwendet die Bilder eines Heurigen, um sich sprachspielerisch in alle Richtungen auszutoben. Johannes Tosin schildert sehr stimmungsvoll eine schneereiche Nacht, vom dunklen Zimmer aus gesehen. Ähnlich elegisch gelingen Isabella Feimer Szenen einer Regennacht. Einen Schritt weiter geht Jonathan Perry, wenn er, von den Szenen eines Parks ausgehend, zu Menschen übergeht und dann noch zur Wiedergabe eines Gemäldes. Öfter dient der Hintergrund eines Sonnentages als Kulisse für Erinnerungen an Ferienabenteuer der Kindheit, mit Fahrrad und Freibad – recht gelungen bei Harald Vogl in „an skalpierten tagen“. Sehr bildreich gerät auch das Gedicht „Am Abend“ von Josef Pedarnig, das die wehmütige Stimmung in den Bergen einfängt, die Stimmung eines etwas unheimlichen Abends gleich nach dem Sonnenuntergang.
Erst ein müdes Lebewohl Dann ein Frösteln Ein neidvoller Blick Nach dem blauen Bett Des Himmels
Interessant ist dabei auch, dass eine ganze Reihe von Texten sich wie Miniaturen oder als regelrechte Haikus präsentieren. Ein ganz typisches, dreizeiliges Haiku stammt von Ilse Viktoria Bösze und kommt mit exakt zwei treffenden Bildern aus. Etwas länger gibt sich „Leiser“ von Ingrid Fichtner: Hier wird eine taubedeckte Wiese im Morgengrauen beschrieben. Eine ausgebaute Miniatur ist wohl jene von Andrea Nagy „Anrede (aux poètes maudits)“, in der sich das Bild eines Mondes inmitten von Wolken zu einer Hymne an die Nacht auswächst, an die Nacht als Ort von erotischer Lust, Trunkenheit, aber auch von Tod.
Wiederum ganz kurz und knapp gestaltet sich Gerald Jatzeks Gedicht „Über einen finnischen See“ – einige wenige Wörter genügen, um das Bild der unruhigen Wasseroberfläche entstehen zu lassen. Einige der kurzen Gedichte widmen sich aber anderen Themen: Julia Hintermayers „wo nichts währt“ erfasst in zwei Strophen das Drama der völligen Hingabe an den anderen, Veronika Zorns Miniatur „tierchen sagt“ erschreckt durch die Perspektive einer Krebsgeschwulst.
Mutter, Vater, Verlust
Auffällig ist vor allem in der ersten Hälfte der Sammlung eine gewisse Häufung von Gedichten, in denen sich das lyrische Ich an die eigenen lebenden wie verstorbenen Familienangehörigen wendet. Verstörend ist die Schilderung des Selbstmords eines nahen Familienangehörigen, vermutlich Vater oder Mutter, in Noahs Eggers „Das lauteste Echo / So webt sich Schmerz in Menschen ein“ – für das Unvorstellbare findet der Autor starke, treffende Bilder.
II (in einem Atemzug) Da ist der Nadelwaldweg welchen ich nicht mehr betrete, der Schmelzwasserbach, welchen ich nicht mehr durchwate, das kinderlose Kinderzimmer, in welchem ich nicht mehr schlafe, ohne mich nach durchwachten Nächten stumm zu fragen, ob du hier ebenfalls schlaflos gewandelt bist
Franz Fabianits schildert in seinem erzählenden Gedicht „Großmutter“ eine längst untergegangene ländliche Welt, in der die genannte Frau in all ihrer gestischen Körperlichkeit lebendig wird. Ein würdigendes, aber auch humorvolles Porträt seiner Mutter bringt auch Martin Peichl, vor allem anhand von Szenen, in denen sie Besuch vom Sohn bekommt. An ein verstorbenes Kind wendet sich hingegen das Gedicht „Meine Tochter“ von Asiyeh Panahi. In mehreren Szenen wird geschildert, was das tote Mädchen nicht mehr machen und erleben wird; erst spät wird klar, dass das Kind in einem Krieg, nämlich in Afghanistan, getötet wurde – gleichzeitig werden die Bilder drastischer.
Sprachorientierte Gedichte
wir schreiben mit unseren hörnern die zeichen in die weiche rinde wir lesen mit unseren mündern die geschichten auf und tragen sie in die städte wir ritzen mit unseren händen die erzählungen in die harten wände
Sehr sprach- und formorientierte Gedichte finden sich in der Anthologie selbstverständlich auch. Erwähnenswert ist hier das oben zitierte Gedicht „funde“ von Manon Bauer, das mit Wiederholungen und Assonanzen arbeitet und sich poetologischen Fragen widmet. Das ebenfalls das Thema „Schreiben“ umkreisende Gedicht „Im Labyrinth mich erkennend“ von Richard Wall ist noch mehr auf Reime ausgerichtet, insbesondere Binnenreime. In Kombination mit langen Zeilen ergibt das einen sehr melodischen Duktus; zudem ist der Text auch durch seine Verwendung von technischen Begriffen und antiken Bezügen originell. Sehr feierlich – und durchgehend gereimt – mutet Felix Thalheims Gedicht „Der Pfeiler“ an, das einen Tiger im Käfig in den Blick nimmt und einen balladenhaften Charakter hat. Ebenso melodisch kommt auch Eva Kittelmanns „Nie mehr“ daher, das sprunghaft von Reisen erzählt.
Auch weitere Themen lassen sich in der umfangreichen Textsammlung ausmachen: Krieg und Zerstörung, Resignation und Depression, Kindheit, orientalische Motive, Umgang mit Tod und Verlust, Postapokalypse, Vergangenheitsbewältigung, Reisen und die Erinnerung daran, Zeit und Vergänglichkeit. Insgesamt ist die 303 Seiten starke Textsammlung eine lohnende Lektüre für jede Lyrikkennerin, jeden Lyrikinteressierten. Man stößt auf überraschend artifizielle Texte, wo man sie nicht erwartet, und auch bei den bekannten Namen wird man selten enttäuscht. Allerdings hätte eine Verschlankung der Anthologie gutgetan, da unter den Texten auch solche ohne jeden erkennbaren literarischen Anspruch zu finden sind.
Alexandra Bernhardt (Hg.): Jahrbuch der österreichischen Lyrik 2022/23. Edition Melos, Wien, 2023, 303 Seiten, Euro 28,–