Lukas Meschik liest Maša Seničićs Zeitweilig wie Wochenendsiedlungen
Zeitweilig wie Wochenendsiedlungen ist der zweite Gedichtband der 1990 in Belgrad geborenen Lyrikerin Maša Seničić. Im Original bereits 2019 erschienen, liegt er nun in einer Übersetzung von Mascha Dabić vor. Darin gelingt es der Autorin, treffsichere Bilder für eine prekäre Existenz, umgeben von gleichgültigen Mittelstandsstrukturen, zu finden.
Cover © Drava Verlag
Die Sprache bewegt sich teils nah am Alltag, kippt jedoch nie ins Banale oder Vulgäre, im Gegenteil bringt sie damit das nur scheinbar Alltägliche und vermeintlich Durchdrungene erst zum Leuchten; sie bleibt verständlich im besten Sinne. Eine Verrätselung geschieht auf anderer Ebene, nämlich in den originellen, nie abgenutzten Metaphern, die Seničić so schnell keiner nachmacht.
Annäherung an Antwortmöglichkeiten
Der Band gliedert sich in drei Teile: „monatelang / toter hund“, „unbarmherzige / fremde Vorstädte“ und „Sturmhöhe / Viadukt Gestrüpp“. Diese sind jeweils einer Position zugeordnet: „INNEN“, „ANGRENZEND“ und „AUSSERHALB“. Eine naheliegende Assoziation ist hier Peter Handkes vielsagende Beschwörung einer „Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“. Was innerhalb und was außerhalb der eigenen Sprechposition liegt, bleibt immer eine Frage der Perspektive. Die prägnanten Gedichte von Seničić machen sofort deutlich, dass sie sich ihrer Ausgangslage und Stoßrichtung bewusst sind – es ist keine Suchbewegung, die hier abgebildet wird, sondern eine Annäherung an Antwortmöglichkeiten. Wir lauschen einer Stimme, die sich selbst kennt – und sich in einer wohlstandsverwahrlosten Gesellschaft als selbstbewusste Außenseiterstimme verortet. Das geschieht viel weniger abstrakt, als es klingt.
Julischwere (…) ich helfe ihr beim ersten Schritt: ihr verwirrter Körper, runzlig und still, beharrt auf Kosmetik. meine Haut juckt, vor lauter Schweiß und Pharmaindustrie. vor Nervosität kann ich nicht einschlafen: meine Mittelschichtwurzeln und meine gefällige Gestik, mein feines Gespür für Gleichgültigkeit, all das könnte mir ein schönes Leben bescheren, jedoch habe ich allzu gründlich recherchiert, wo die Erwartungen enden und der Dritte Weltkrieg beginnt: im Morgengrauen, Fingernägel auf trockener Haut, es brennt, reißt, stockt. ich nehme die Obstdose, schrubbe, fülle sie wieder. wenn sie nachmittags das Obst kaut, denke ich höchst hartnäckig an den Tod.
Diese Gedichte sind kein schöngeistiges Exerzitium, das um sich selber kreist, sie legen schonungslos offen, wie sich das Leben im Kapitalismus für eine Generation anfühlt, der von Kindheit an eingetrichtert wurde, alles werden und alles schaffen zu können, dabei aber in erster Linie folgsamer Konsument zu sein. Hier wird geschwitzt und sich verzweifelt geschminkt, um Makel zu kaschieren; aber das Unedle, Tierhafte am Menschen blitzt immer durch. Unsere Oberflächen sind nicht so glatt wie die schönen Häuserwände reicher Menschen.
Ausgesprochen Unausgesprochenes
Die Gedichte von Seničić sind wortreich, was ihnen nie zum Nachteil gereicht. Wortreichtum verkommt oft zur schieren Materialanhäufung, ohne dass damit besonders viel ausgedrückt werden würde. Wer aber viel zu sagen hat, braucht sich nicht kurz zu fassen. Wo die herkömmliche lyrische Form nicht ausreicht, wechselt die Autorin vereinzelt in Kurzprosa, auch Durchstreichungen kommen als zusätzliches poetisches Mittel zum Einsatz, um eine weitere Bedeutungsebene des ausgesprochen Unausgesprochenen zu schaffen. Erwartungsgemäß ist es eine höchst verdichtete Prosa, in der man gern ganze Geschichte oder Romane lesen würde.
„Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen: jeder Zug des Behagens darin ist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur der Geborgenheit mit der muffigen Interessengemeinschaft der Familie bezahlt.
…Der moderne Mensch wünscht nahe am Boden zu schlafen wie ein Tier (…) Die Übernächtigen sind allezeit verfügbar und widerstandslos zu allem bereit, alert und bewußtlos zugleich. Wer sich in echte, aber zusammengekaufte Stilwohnungen flüchtet, balsamiert sich bei lebendigem Leibe ein. Will man der Verantwortung fürs Wohnen ausweichen, indem man ins Hotel oder ins möblierte Apartment zieht, so macht man gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm.“
Es sind solche Sätze, die schmerzhaft genau ausdrücken, welches Unbehagen mit Bequemlichkeit verbunden sein kann – sofern sie für jemanden überhaupt erreichbar und erschwinglich ist. „Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen“ – ein Plakat mit diesem Spruch gehört auf jede Wohngemeinschaftstoilette und auf ein Banner über dem Eingang jedes IKEA-Tempels.
Dass bei aller bitteren Gegenwartsbilanz stets ein subtiler Witz erhalten bleibt, bleibt in jedem Fall ein Verdienst der Übersetzung von Mascha Dabić, gerade das Übertragen von Lyrik ist bis zu einem gewissen Grad immer eine Neudichtung in der Zielsprache. Das Auswählen von Zitaten fällt schwer – nicht, weil es an aussagekräftigen oder exemplarischen Stellen mangeln würde, sondern weil im Gegenteil die Qualität der Texte durchgehend so hoch ist, dass man sich kaum entscheiden kann, welche man auf die Schnelle am liebsten teilen möchte. Als Lösung sei die selbstständige Lektüre von Zeitweilig wie Wochenendsiedlungen nicht nur zurückhaltend ans Herz gelegt, sondern dringend empfohlen.
nicht möglich wegzuziehen Trampoline in den Gärten der Häuser gemietet von zeitweiligen diplomatischen Familien verhalten sich wie die Körper derer, die du liebst: sie biegen sich unter dir, dann ermüden sie (...)
Das Träumen der Menschheit
Die titelgebende Wochenendsiedlung steht symbolisch (und symptomatisch) für einen Zufluchtsort, an den sich der getriebene Mensch dann und wann zurückziehen darf, um durchzuatmen und wieder zu Kräften zu kommen. Im zweiten Teil wird uns in sachlicher Kurzprosa erklärt: „Der Begriff ‚Wochenendhaus‘ bezog sich ursprünglich auf Häuser, die dem Zweck dienten, dass man sich am Ende der Woche dort erholen und rekreativ betätigen konnte, allerdings bezeichnet der Begriff inzwischen auch Wohnobjekte, die sekundären rekreativen Wohnzwecken dienen und für längere Feiertage oder für einen längeren Zeitraum im Jahr angemietet werden.“
Es ist Maša Seničić hoch anzurechnen, dass sie uns diese stückweise Verschiebung von Lebensformen in wuchtiger lyrischer Form näherbringt. Soziologische Studien oder historische Einordnungen zur Neuorientierung einer Gesellschaft in Friedenszeiten und hereinbrechendem Wohlstand mag es zuhauf geben, aber so wie der Einzelmensch neue Eindrücke erst verarbeiten kann, indem er die Tagesereignisse träumt, so kann eine Gemeinschaft ihre Entwicklung erst festmachen, wenn sie ihren Ausdruck in Kunstwerken erfährt. Vielleicht ist Lyrik das Träumen der Menschheit.
Maša Seničić: Zeitweilig wie Wochenendsiedlungen. Übersetzt von Mascha Dabić. Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec, 2024. 100 Seiten. Euro 15,50