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Zahllose Fäden, virtuos geknüpft

Zahllose Fäden, virtuos geknüpft

Helmut Neundlinger ließt Sylvie Kandés Stiller Tausch
als Sommerlektüre 2024


Dieser Band fiel mir zu, wie mir manchmal Bücher zufallen, mit denen ich nicht rechne, die ich nicht suche, die offenbar aber mich suchen und zuweilen auch finden (an dieser Stelle eine Nachricht an Bücher, die mich nicht gefunden haben: Bitte sucht weiter nach mir!).

Ich entdeckte ich den Band Stiller Tausch von Sylvie Kandé in der Janssen Universitätsbuchhandlung in der Bochumer Innenstadt. Für eine Buchhandlung mit universitärer Ausrichtung haben die Janssens eine bemerkenswert umfangreiche Lyrik-Abteilung, und es steht zu hoffen, dass die Studierenden und Lehrenden der Universität einen Gutteil ihrer Freizeit mit dem Lesen von Gedichten verbringen.

Foto © Helmut Neundlinger

Oder schreiben sie gar emsig Rezensionen, Seminar- oder Masterarbeiten, Kommentare und dergleichen? 

Ich jedenfalls wurde nach meinem letzten Bochum-Besuch vor fünf Jahren ein zweites Mal lyrik-fündig. Zunächst war es der Einband, der mich lockte: Die Eleganz, die von der Reihe „Edition Lyrik Kabinett bei Hanser“ ausgeht, zieht mich nahezu magisch an. Abgesehen davon, dass die Herausgeberschaft bei einer der verdientesten Institutionen für Poesie im deutschen Sprachraum liegt: die in München angesiedelte Stiftung Lyrik Kabinett, die mehr als 65.000 Bände Lyrik in ihrer Bibliothek versammelt und mit Veranstaltungen und Editionen auch kräftig nach außen wirkt. 

In diesem Fall bescherte mir die Edition eine Entdeckung: Die Autorin Sylvie Kandé kannte ich bislang noch nicht. Sie hat, wie ihr Wikipedia-Eintrag berichtet, bretonisch-senegalesische Wurzeln und unterrichtet Afrikanische Geschichte an der State University in New York. Für ihr dichterisches Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 

Die in dem Band versammelte Auswahl hat es in sich: Von Haiku-artig kurzen Notaten bis hin zu mehrseitigen Langgedichten reicht das Spektrum. Von rhapsodisch erzählendem Duktus bis zur äußersten Verdichtung erstreckt sich die formale Palette der Dichterin, die in ihren Arbeiten eine schier unüberblickbare Zahl an Fäden verwebt: feine Wahrnehmungspartikel, mythologisch aufgeladene Bildsequenzen, Politisches neben Persönlichem usw. Und auch was die Sprache betrifft, schlägt sie denkbar unterschiedliche Töne an. Kandé beherrscht die Zurückhaltung der Lakonie ebenso wie den Pathos der Expression, ohne dass es jemals epigonal klingen würde. Die Übersetzungen/Nachdichtungen von Tim Trzaskalik messen sich redlich an den oftmals virtuos ineinander gewundenen Zeilen, die mehr als nur eine Lesart ermöglichen bzw. nahelegen. 

Am stärksten erscheinen mir in dieser poetischen Fülle jene Momente, die das Beschriebene quasi en passant einfangen, wie zum Beispiel dieses Gedicht mit dem Titel „Möwe (stumm)“:

Nicht mehr wissend auf welchem Bein sie stehen sollte
flog sie fort aber wie reumütig
mit diesem verdutzten Schrei unserer Meeresvögel 
Vielleicht Anstoß nehmend 
dreht ihre Seele ab
gerät über der Klinge der Klippe ins Stocken
und stürzt lotrecht ins schwarze Wasser
aus Verzweiflung aus Rache wohl auch
Und wir laufen derweil über den Küstenpfad
vergießen die Tränen die der Wind uns entreißt
Den Abgrund dort unten erwägend der brodelt
und unser stillschweigendes Einvernehmen mit ihrem Flug
ringen wir uns vor lascher Angst die Hände

Wie Kandé die beiden Ebenen, den Flug der Möwe und die sie dabei Beobachtende(n), miteinander verbindet und ineinander verzahnt und gleichzeitig genug Abstand lässt für die Assoziationen der/des Mitlesenden, finde ich äußerst überzeugend. Dies ist nur ein Beispiel für ihre Poetik, als deren stärkste Triebfeder ich die, wie ich es nennen würde, geprüfte, geschliffene Assoziation nennen würde. Die Kühnheit und Eigenartigkeit entsteht in jenem Zwischenraum, der sich wie an dieser Stelle zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Wahrnehmung auftut. 

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Besonders beeindruckt hat mich ein Gedicht, das sie dem Bildhauer Alberto Giacometti unter dem Titel „Der schreitende Mann“ gewidmet hat. Hier legt sie in gewisser Weise die Erscheinung des Künstlers über seine Statuen bzw. bietet sie eine Art von afrikanischer Lesart seiner Kunst an, was zunächst einen überraschenden Effekt erzeugt, genau dadurch aber einen Raum öffnet, in dem eine vollkommen eigene Interpretation dieses einflussreichen Werkes entsteht. Hier ein Ausschnitt: 

Von der Wüste hat er den hellen Blick
wie einer der die Dünen zu durchschauen weiß
und eine Spur Verachtung für schweres Gewicht
Urbaner Nomade dessen Schatten auf die Graffitis fällt
der zur Heimtücke der Treibsande ermittelt und den 
	Ahnungslosen spielt
einen Pilger aus Etrurien oder den Ländern der Peul
ein Mann der mit dem Stock auf den Schultern träumt

Kandé dreht hier an sämtlichen Schrauben der Assoziationsfelder, ohne dabei den Rhythmus zu verlieren, und schon gar nicht jene Form der Genauigkeit, an der sie die Komposition ihrer Zeilen zu schärfen scheint. Eine große Dichterin, die auf leisen Sohlen daherkommt, sei hiermit nachdrücklich empfohlen. 

Sylvie Kandé: Stiller Tausch. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Französischen von Tim Trzaskalik. Edition Lyrik Kabinett bei Hanser. München 2023.

Cover © Hanser  

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