Daniela Chana liest Marianne Jungmaiers Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens
Es ist eine sehr persönliche Beziehung, die das lyrische Ich in Marianne Jungmaiers neuem Gedichtband Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens zur Natur, vor allem zu den Bäumen, pflegt. Der Wald ist keine Kulisse, vielmehr sind Eiche, Birke oder Buche hier die wahren Protagonisten. Bei ihnen findet die Ichfigur Halt, Trost, Schutz und Geborgenheit, wie gleich im Eingangsgedicht „Koordinatensystem“ anschaulich wird:
alte Eichen sind die Punkte in meinem Koordinatensystem mein Zuhause verteilt über ein ganzes Tal Rückkehrmöglichkeiten und Wurzelgräber Väter, die nicht weichen
Relativ wenig verrät uns dieses Ich über sich selbst. Den Großteil des Bandes tritt es dezent in den Hintergrund und lässt den Scheinwerfer auf die nicht-menschlichen Lebewesen gerichtet, die den Wald bevölkern. Somit gelingt der Autorin das Kunststück, die Bäume tatsächlich als Figuren ernst zu nehmen, statt sie als Stellvertreter für eine politische, sentimentale oder wie auch immer geartete Botschaft zu missbrauchen. Anders als in der Romantik muss die Natur hier nicht als Sinnbild für das Innenleben des Menschen herhalten. Ebenso kippen die Gedichte an keiner Stelle in den Duktus bloßer „Protestsongs“ oder „Tendenzlyrik“, was angesichts der Aktualität der Debatte um den Klimawandel freilich leicht möglich gewesen wäre.
Raffiniert scheint damit auch der Buchtitel zu spielen, in dem leise die Gefahr anklingen darf, die über der Idylle schwebt: Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens. In Anbetracht dessen, dass es hier ja gerade nicht die Bäume sind, die sprechen bzw. singen, ist wohl die Interpretation zulässig, dass es die Ichfigur selbst ist, die sich als „womöglich ausgestorbenes“ Wesen empfindet.
Cover © Otto Müller Verlag
Schließlich mag eine solch starke Erfahrung echter Naturverbundenheit, wie Jungmaier sie schildert, angesichts der medialen Dauerberieselung heute eher eine Seltenheit sein, eventuell trägt sie fast schon einen rebellischen Charakter in sich. Wer sich für einige Stunden ausklinkt und in den Wald begibt, entzieht sich für eine Weile dem ständigen Zugriff. Dass dieses individuelle Erleben latent bedroht ist, wird somit im Titel leicht „angeteasert“, ohne dass sich das lyrische Ich zum Sprachrohr einer Bewegung machen lässt.
Spirituelle Dimension
Weitaus stärker als eine politische lassen die Gedichte des Bandes eine spirituelle Dimension erahnen. Schließlich ist Jungmaier nicht nur eine vielseitige Autorin, die in der Prosa ebenso zuhause ist wie in der Lyrik, sondern sie arbeitet neben dem Schreiben auch als selbstständige Yogalehrerin. Tatsächlich zeugen die präzisen, geradezu „liebevollen“ Beschreibungen etwa einer Rinde oder einer Wurzel in diesen Texten von einer Achtsamkeit, die meditative Qualitäten in sich trägt. Die Begegnung mit der Natur öffnet den Zugang zu einer sinneserweiternden Erfahrung. Zum Beispiel schreibt Jungmaier, die intensiv Indien und Nepal bereist hat, in dem Gedicht „Himalayablüte“:
ein Myhrre-Duft Atem befreit der Blick wird klar Sonne geweiht den Linien alten Wissens
Wie auch in ihrer Prosa bedient sich Marianne Jungmaier einer einfachen, schnörkellosen Sprache, die für ein breites Publikum leicht zugänglich ist. Lyrik wird damit zu einer Erfahrung, die jedem Menschen offensteht, ebenso wie ein Waldspaziergang, Yoga oder Meditation. Auf diese Weise gelingt Jungmaier eine perfekte Verbindung zwischen Form und Inhalt. Nicht zu verkopft, sondern mit allen Sinnen soll der Mensch der Natur und sich selbst begegnen. Die Selbsterkenntnis erwächst aus dem, was die Ichfigur im Wald beobachtet:
zwischen Armen die halten stärker und älter als ich je sein werde Großmutter in Baumform
Die filigranen Illustrationen von Ursula Kiesling fangen die verzauberte Stimmung des Bandes treffend ein. Detailgetreu werden Bäume, Blüten oder Pilze dargestellt und weisen dabei immer Spuren von etwas Menschlichem auf. Mal ist es ein Gegenstand aus der Zivilisation, der neben der Pflanze abgestellt oder abgelegt wurde – etwa ein Roller oder eine Bürste –, mal ist es der Baum selbst, der einer menschlichen Gestalt ähnelt. Im Loch eines Blattes ist das Auge einer Frau zu erkennen, durch die Rillen einer Aludose haben sich die Wurzeln einer neuen Pflanze einen Weg gebahnt.
Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens ist eine zutiefst wohltuende und inspirierende Lektüre, die den Kopf frei macht. Mit ihren detaillierten Beobachtungen sind diese Gedichte auch eine Schule der Wahrnehmung. Wer dieses Buch beim nächsten Waldspaziergang in seinen Rucksack packt, macht bestimmt nichts verkehrt.
Marianne Jungmaier: Gesang eines womöglich ausgestorbenen Wesens. Otto Müller Verlag, Salzburg, 2024. 64 Seiten. 24 Euro.