Klaus Ebner liest Geraldine Gutiérrez-Wienkens
Die Stille ist ein Tänzer/El silencio es una bailarina
Bei der Wiener edition fabrik.transit erschien der Lyrikband Die Stille ist ein Tänzer der venezolanischen Autorin Geraldine Gutiérrez-Wienken, zweisprachig auf Deutsch und Spanisch. Bei diesem Buch nimmt auch die Übersetzerin einen prominenten Platz ein, da die Publikation auf einer ganz besonderen Kooperation beruht.
Übersetzerin Astrid Nischkauer und Autorin Geraldine Gutiérrez-Wienken kennen einander persönlich. Beide sind Autorinnen und Übersetzerinnen. Die venezolanische Autorin spricht ebenfalls deutsch und lebt in Deutschland.
Cover © edition fabrik.transit
In ihrem aufschlussreichen Nachwort erzählt Astrid Nischkauer, wie eng sie mit der Autorin zusammenarbeiten konnte; Übersetzungs- und Korrekturvorschläge gingen mehrmals hin und her, da wurde debattiert und manchmal, mit Zustimmung oder sogar auf Anraten der venezolanischen Autorin, sehr frei übertragen.
Diese Art von Übersetzung halte ich insbesondere bei Lyrik für eine Idealkonstellation und einen Glücksfall, der in der Praxis nur selten vorkommt. Für Nischkauer war dies zudem eine großartige und einmalige Übersetzungserfahrung.
Die titelgebende Stille ist in diesem Buch Programm. Sie tänzelt durch die Verse und über die Seiten, lädt Leser*innen zum Innehalten ein. Gleich zu Beginn heißt es tiefgründig:
Die Geschichte ist kurz. Sehr kurz. Die Stille der Natur Durst. Die Stille ist das am wenigsten Passive. Ein Krug voller Vorfahren. Mensch ohne Bleibe. (…) El relato es corto. Cortísimo. El silencio de la naturaleza se renueva como la sed. Es lo menos pasivo. Un cántaro progenitor. Hombre sin paradero. (…)
Geraldine Gutiérrez-Wienken wurde 1966 in Ciudad Guayana in Venezuela geboren. Sie studierte Zahnmedizin und Deutsche Philologie. Seit vielen Jahren lebt sie als Lyrikerin und Übersetzerin in Heidelberg. Inklusive El silencio es una bailarina veröffentlichte sie vier Gedichtbände und übersetzte eine Reihe deutschsprachiger Autor*innen ins Spanische, darunter Hilde Domin und Rose Ausländer.
Astrid Nischkauer wurde 1989 in Wien geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik, publizierte ebenfalls vier Gedichtbände und übersetzte mehrere Bücher aus dem Spanischen ins Deutsche. Zudem ist sie als Literaturkritikerin und Herausgeberin tätig. Sie lebt in Wien.
Methodisches
Die Gedichte sind mit römischen Zahlen durchnummeriert und tragen keine weiteren Titel. Geraldine Gutiérrez-Wienkens verwendet freie Rhythmen, zumeist relativ lange Verse, und manche Texte lassen sich wie Prosatexte inklusive weitgehender, also nicht ganz vollständiger Interpunktion lesen. Das betrifft freilich nur ihre äußere Form, denn inhaltlich geben sich die Gedichte sehr poetisch, arbeiten mit zahlreichen Bildern sowie Bezügen zu Kunst und Literatur, und sie entziehen sich erfolgreich einem zu raschen Drüberlesen. „XVII“ beginnt mit der folgenden Strophe:
Mein Haus ist ein kopfüber stehender Baum ohne zu fragen antwortet es mit Erinnerungen biegt sich. Es zeichnet die Mitte voller Früchte ernährt sich von Gefühlen Mi casa es un árbol de cabeza sin preguntar responde de memoria se curva. Dibuja la mitad con frutas se nutre de los sentidos
Als Prosasatz geschrieben könnten die einzelnen Verse mit Kommata voneinander getrennt werden. Häufig taucht jedoch ein Enjambement auf; im Fall der obigen Strophe bindet dieses sogar zwei Strophen aneinander, denn die nächste beginnt mit „widersprüchlicher Natur. (…)/contrarios. (…)“.
Erinnerungen formen Eindrücke und Erlebnisse zu Versen, die wie locker hingestreute Bilder wirken und dadurch bei den Leser*innen neue Eindrücke erzeugen. Oder sie erzählen eine kleine Geschichte, die ihre Wurzeln in der Kindheit, in Venezuela und ebenso in Europa findet.
Vom Schema der römischen Nummerierung weichen die letzten beiden Texte ab. Sie tragen die Titel „Bogotá-Partituren“ und „Methoden kleine Brände auszulösen“. Beide reichen über mehrere Seiten, wobei die Bogotá-Partituren an Notizen erinnern, die innerhalb von dreieinhalb Stunden aufgeschrieben wurden – jede Passage, aus ein bis zwei Sätzen oder Phrasen bestehend, trägt ihren Zeitstempel.
5.48h hörst du deine Sprache in bewölkten Straßen zwischen dem Mehrdeutigen und dem Gesang halte den Kontrast fest 5.49h in der Natur existieren laut Cézanne keine Farben nur Kontraste 5.48h si oyes tu idioma en calles nubladas entre lo ambiguo y el canto sostén el contraste 5.49h en la naturaleza no existen los colores según Cézanne sólo existen contrastes
Die „Methoden“ bezeichnet die Autorin im Untertitel als „Leitfaden ursprünglicher Hilfe“. Es handelt sich um einzelne Zeilen oder Verse, die jeweils mit einem Bindestrich anfangen und fast keine Satzzeichen enthalten. Für mein Gefühl wirken sie besonders poetisch und sparen zudem nicht mit literarischen Anspielungen, welche sich ja generell durch das ganze Buch ziehen.
(…) – das Geheimnis im Inneren zurückdrehen – sich endlich erinnern – Verluste auflisten – nach Walter Benjamin – nicht wissend ob auch du eines Tages darunter bist (…) – jenseits der Schrift und der Orangebäume – bleibt viel Zeit übrig für Traurigkeit – eine Schale Tee. Die Tagebücher Kafkas – Ereignisse archivieren die (sich) wiederholen – der kopfüber stehende Wald – die kleine Medusa mit kurzem Haar – unvermeidbarer Zwang (…) (…) – darle cuerda al sigilo de plano para que sea – por fin (re)cuerdo – hacer una lista de pérdidas – à la Walter Benjamin – sin saber si tú algún día de añades también (…) – allende de la escritura y los naranjos – hay tiempo de sobra para la tristeza – un cuenco de té. Los diarios de Kafka – archivar eventos que [se] repiten – el bosque de cabeza – la medusa-niña-de-pelo-corto – forzosidad inevitable (…)
Geraldine Gutiérrez-Wienken setzt an wenigen Stellen deutsche Worte ins spanische Gedicht. Wo das geschieht, wurde in der Übersetzung aus dem Deutschen Spanisch. Somit bleibt ganz analog der Effekt des Textes durch den Fremdspracheneinschub gewahrt.
Sprachliches
Naturgemäß wird die Stille wiederholt zitiert; sie schimmert als Grundstimmung durch den Lyrikband. Aus der letzten Strophe des Gedichtes „XVII“ stammt der Titel des Buches. Dort heißt es:
in einer Menge von Müttern ist die Stille ein Tänzer en un puñado de madres el silencio es una bailarina
Beim erstmaligen Lesen des Buchtitels und der deutschen Übersetzung wunderte ich mich, warum hier das grammatische Geschlecht wechselt, warum die weibliche Stille plötzlich zum männlichen Tänzer wird, zumal aus einem sprachlichen Gesichtspunkt heraus eine „Tänzerin“ erwartet würde. Dann aber fiel mir auf, dass hier das spanische Original quasi gespiegelt ist. Denn dort wird das männliche Substantiv „el silencio“ zur weiblichen „bailarina“. Die grammatischen Geschlechter sind umgekehrt verteilt, was sich schlichtweg daraus ergibt, dass „Stille“ im Deutschen weiblich und „silencio“ im Spanischen männlich ist.
Es sind sprachliche Feinheiten wie diese, welche die Feinfühligkeit und wohl auch die enge Abstimmung von Übersetzerin und Autorin zeigt. Das Buch erschien bei fabrik.transit als Broschur und wurde ästhetisch und lesefreundlich gestaltet. Das Coverbild stammt von Alfonso Suarez-Kurz.
Geraldine Gutiérrez-Wienken: Die Stille ist ein Tänzer. Übersetzt von Astrid Nischkauer in enger Zusammenarbeit mit der Autorin. edition fabrik.transit, Wien 2024. 104 Seiten. Euro 15,–