Klaus Ebner liest Franziska Raimunds Chiaroscuro
Der Begriff des Charioscuro, deutsch „Hell-Dunkel“, kommt aus der Malerei. Es bezeichnet ein in Renaissance und Barock entwickeltes Gestaltungsmittel, das mit kontrastreichen hellen und dunklen Stellen im Gemälde arbeitet. Rembrandt und Caravaggio etwa sind wichtige Vertreter dieser Technik. Franziska Raimund verwendet diesen Begriff, um helle und dunkle Seiten eines bzw. ihres Lebens aufzuzeigen. Die Sonnen- und die Schattenseiten, wie etwa Freude und Trauer, gehören wohl zusammen – schon allein, um sich deren Gegensatz gewahr zu werden.
Franziska Raimund wurde 1944 im oberösterreichischen Bad Hall geboren. Sie lebt mit ihrem Mann, dem Autor und Übersetzer Hans Raimund, in Wien und im Burgenland. Auch sie ist als Übersetzerin tätig, aus dem Italienischen, Französischen und Englischen. Sie studierte Romanistik und Germanistik und lehrte Sprachen in Wien und Triest. Die meisten ihrer Übersetzungen erschienen im Löcker Verlag. Der vorliegende Band mit eigener Lyrik kam in der burgenländischen edition lex liszt 12 heraus.
Die Autorin sammelt in Chiaroscuro Lyrik, deren Entstehen über mehrere Jahrzehnte reicht. Es handelt sich daher um eine Sammlung, die aber in vier Abschnitte mit losem innerem Zusammenhalt gegliedert ist. Die Gedichte weisen eine narrative und sprachlich gut zugängliche Struktur auf.
Cover © edition lex liszt 12
Jedes ist mit dem Jahr seiner Entstehung versehen; das zeigt, dass sie nicht chronologisch angeordnet wurden, sondern einem semantischen roten Faden folgen. Persönliches und Poetisches reichen einander die Hand, und am Beginn des Buches heißt es unter dem Titel „In einer Welt von Verzögerungen“:
Wir verschieben Leidenschaft, Freude und Kummer auf später, wir trauern poetisch in einer Welt von Verlusten. Wir sagen: Zeit heilt und meinen: Der Tod ist uns gewiss. Wir sind verlässlich, rechtschaffen, leicht wiederzuverwerten und unsterblich.
Allein diese Zeilen verbinden helle und dunkle, erhebende und traurige Aspekte des Lebens. Ihre Verbindung ergibt ein: Chiaroscuro.
Im Nachwort weist Hans Raimund darauf hin, dass die Bedeutung, welche die Autorin dem Wort und seiner Aussagekraft zumisst, wohl mit der jüdischen Seite ihrer Herkunft zu tun hat; bei den Juden als „Volk des Buches“ kam dem Wort nämlich stets ein ganz besonderes Gewicht zu. Zudem setzte sich Franziska Raimund während der Schul- und Studienzeit explizit mit dem Werk vieler jüdischer Autor*innen auseinander. Sie selbst schreibt zum Thema: „Ich lebe sehr im Wort. / Wortgläubig bin ich, sagt der, / der mit mir lebt, / und er hat recht.“
Von der Erzählung zum Gedicht
Die Gedichte, die oft über mehrere Seiten reichen und eine Geschichte erzählen, lesen sich wie Prosa. Die Aufteilung in Verse bewirkt jedoch ein langsameres Lesen; so erreicht die Gedichtstruktur eine tiefere Wirkung und mitunter ein Innehalten an einer besonders ausdrucksstarken Stelle. Raimund schreibt vollständige und mit korrekter Interpunktion versehene Sätze; nur bei einzelnen Gedichten werden Kommata ausgespart, und dabei handelt es sich meistens um ältere Texte. Natürlich gibt es Zeilensprünge und inhaltliche Enjambements, doch dienen diese der genannten Hervorhebungsstrategie.
Eines der Gedichte, nämlich „Amsel“, ist gleich dreimal abgedruckt, weil die Autorin nämlich dessen – vermutlich von ihr selbst angefertigte – italienische und französische Übersetzung hinzufügte.
Wer dem Erzählten Ähnliches selbst erlebt hat, kann sich dem Sog der Verse kaum entziehen. So war ich überrascht, wie stark mich das Gedicht „Tag eins nach Lenas Tod“ berührte. Lena war die Hündin der Autorin. Es ist ein (und nicht das einzige) dem Tier gewidmetes Gedicht aus dem Jahr 2009, das über zehn (!) Seiten reicht und gleich mit einer ziemlich heftigen Feststellung startet:
Lena ist tot. Gestern früh starb unsere Hündin durch die Hand der Tierärztin. Der Euphemismus „einschläfern“ ist feig und unrichtig. Es heißt „töten“, „morden“ gegen Bezahlung.
An weitere Details des Todes erinnert die Autorin in den nachfolgenden Strophen, bevor sie dann vom Leben mit der Hündin und vom jahrelangen innigen Verhältnis von Lena zu Frauchen und Herrchen erzählt. Mir brachte dieser Text meine nahezu identisch gelagerte Erfahrung mit dem Hund meiner Jugend ins Gedächtnis, und bereits nach den ersten Zeilen standen mir Tränen in den Augen.
Ob Wahrnehmungen in der Natur, an Orten wie dem italienischen Duino, wo Franziska Raimund jahrelang lehrte, aber auch ein überaus einschneidendes Erlebnis beim Schwimmen im Meer vor Tel Aviv – die Autorin vermittelt Betrachtungen, viel mehr jedoch Emotionen, die sich leicht auf die Leser*innen übertragen können. Ein sehr frühes Gedicht, von 1989, ist „Hier“:
Hier und jetzt furchtlos und ruhig, alterslos, ohne Vergangenheit oder Zukunft nur eine langsame Bewegung in völliger Stille hin zu einem blinden Spiegel.
Vom Tier zum Menschen
Viele Gedichte handeln von Tieren, sei es vom eigenen Hund oder anderen Tieren, die im Garten, auf der Straße oder im Wald angetroffen oder bloß gehört werden. Einige Texte geben sich überaus poetisch und sprechen alle Sinne an, sodass es Vergnügen bereitet, dem Rhythmus des Gesagten zu folgen. Im wiederum über drei Seiten reichenden Gedicht „Fingerübungen“ heißt es unter anderem:
Ein grauer Novembertag, kühl, düster, kein Vogelschrei, vom Wind bewegte, dürre Blätter. Wahrnehmungen, Annahmen, im Haus Lampenlicht, Wärme, gewohnte Farben, der immer gleiche Fensterausschnitt. Aus dem Gedächtnis abrufbare Bilder noch ohne Tiefe, ohne Bedeutung. Von Krankheit, Kummer, Angst ist nicht die Rede, noch nicht. Ein Drinnen, ein Draußen, dazwischen ein Blick, eine Empfindung. Wörter in Ruhestellung, noch kein Gedicht. Geläufige Feststellungen, keine letzten Wahrheiten.
Franziska Raimund versteht es, Situationen, die auf den ersten Blick alltäglich erscheinen mögen, so einzufangen, dass sie ein Gefühl der Ruhe vermitteln und eine die Sinne schärfende Kontemplation ermöglichen. Und natürlich lässt die Auseinandersetzung mit der Tierwelt und der Natur im Allgemeinen eine Menge Rückschlüsse auf den Menschen zu. In „Kaleidoskop“, einem der wenigen Gedichte ohne Kommata, ist zu lesen:
Das karierte Tischtuch der Liegestuhl in der Ecke vor der Tür ein Rosenstock und Hügel in der Ferne.
Dieses Buch ist ein lyrisches Vermächtnis der Autorin. Denn wie ein Vermächtnis liest sich auch der letzte darin enthaltene mehrseitige Text aus dem Jahr 2023 mit dem Titel „Statt eines Epilogs“, der mit der Aufforderung beginnt: „Erzähl einfach aus deinem Leben!“.
Chiaroscuro erschien bei edition lex liszt 12. Der Buchsatz wurde sehr augenfreundlich gestaltet, und das stimmungsvolle Coverbild stammt von Ruth Patzelt. Aus dem Nachwort von Hans Raimund erfahren Leser*innen zudem viel Aufschlussreiches über den Lebensweg und den familiären Hintergrund der Autorin.
Franziska Raimund: Chiaroscuro. Das Helle und das Dunkle. edition lex liszt 12, Oberwart, 2024. 140 Seiten. Euro 20,–