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Der siebten Poesiegalerie zweiter Tag

Der siebten Poesiegalerie zweiter Tag

von Kirstin Breitenfellner


Tag 2 / Freitag, 15. November

18:00 bis 19:20

Der zweite Tag der Poesiegalerie beginnt mit einem großen Thema. Schreiben in Zeiten des inflationären Ichs. Was können experimentelle Formen leisten?“ heißt die vollmundige Ansage bei dem Paneel, an dem fünf Autorinnen und Autoren sowie Moderator und Autor Udo Kawasser teilnehmen. Stargast ist Gerhard Rühm, geboren 1930, der Mitbegründer und gleichzeitig das letzte lebende Mitglied der legendären Wiener Gruppe. 

Moderator Kawasser hat sich aber salomonisch für die Vorstellung in alphabetischer Reihenfolge entschieden. Und beginnt mit Hannah K Bründl, geboren 1996, die dieses Jahr mit dem Band Mother_s (erschienen bei Urs Engeler) debütierte. Sie ist die Jüngste der Runde. Es folgen Ilse Kilic, Margret Kreidl, Gerhard Rühm und Christian Steinbacher, die alle einen progressiven, reflexiven Zugang zu Literatur und Poesie pflegen.

Die erste Frage lautet, ob die Autor*innen sich der experimentellen Literatur zuordnen. Und geht ein bisschen in die Hose. Christian Steinbacher weist das brüsk zurück und rückt den Begriff der Form in den Mittelpunkt. In den 1980ern hätten er und seine Autorenkolleg*innen aber an Gerhard Rühm angedockt. Er habe zum ersten Mal 1995 das verbotene „Ich“ verwendet – allerdings ein theatralisches Ich. Margret Kreidl überlässt die Einordnung lieber anderen und bringt neben der Form das Materialbewusstsein in die Debatte ein. Gerhard Rühm lehnt den Begriff experimentell ebenfalls ab, will seine Kunst eher als konzeptionell verstanden wissen und verweist auf Eugen Gomringer. Literatur habe zwei Formen: die schriftliche und die auditive. „Den Begriff Lyrik mochte ich sowieso nicht, weil er so vergilbt ist. Er trifft aber auf das meiste zu, das heute produziert wird.“ Ilse Kilic wiederum meint, man müsse nicht dazusagen, was man sei – experimentell oder nicht –, und niemand würde sagen: „Ich bin nicht experimentell, weil ich so konventionell bin.“ Für sie sei der spielerische Zugang wichtig. Hannah K Bründl verwendet den Begriff „experimentelles Schreiben“ in ihrer Kurzvita, um Leute abschrecken oder gar „anzupissen“, die gut verkaufbare Lyrik suchen. 

alle Fotos © Poesiegalerie

Ilse Kilic stellt die „Ichsucht“ in den Rahmen einer Gesellschaft, die den einzelnen individualisiert, aus dem sozialen Kontext löst und selbst verantwortlich für sein Scheitern macht. Margret Kreidl wirft ein, dass der Ichwahn nicht erst mit den sozialen Medien entstanden sein, „den hat es ja vorher auch schon gegeben“. Gerhard Rühm erwähnt, dass die Wiener Gruppe die Hierarchie der Sprache – die Einteilung in Haupt- und Nebensatz etc. – aufbrechen wollte, indem sie zum einzelnen Laut zurückging. Sprache tendiere aber auch zum Uferlosen. Ossi Wiener und er hätten einmal versucht, einen Radiergummi umfassend zu beschreiben. Ein Ding der Unmöglichkeit. Hannah K Bründl sieht einen Backlash des Kapitalismus, der via Buchmarkt nur das Verkaufbare zulässt. Sie erwähnt einen Artikel aus ORF.at, der berichtet, dass Probanden Gedichte von einer KI jenen von Sylvia Plath oder Lord Byron vorzogen. Und beklagt, dass die Bildungsarbeit in puncto Literatur zurückgegangen sei. „Sind die Leute nicht einfach müde und ausgepowert mit der Sinnzerstörung der Moderne, dass sie nicht einfach experimentelle Literatur hören oder komplexere Kunst rezipieren wollen?“, fragt Udo Kawasser. Kreidl wirft ein, dass es schon früher schwer war, mit avancierter Literatur einen größeren Verlag zu finden. „Was ich komisch finde, ist, wenn jemand schreibt, um Erfolg zu haben“, meint Rühm. Ilse Kilic hatte eine Statistik erwähnt, nach der 50 Prozent der Deutschen ein Buch schreiben wollen. Rühm ergänzt, er sei kein Pessimist, denn er sehe, dass bei Wien Modern Arnold Schönberg und Alban Berg aufgeführt würden und einen vollen Saal hätten, was in den 1960ern noch nicht der Fall gewesen sei. Hannah K Bründl sieht die Zukunft allerdings nicht rosig und macht einen Kipppunkt fest: „Die Zeiten werden noch viel schlimmer werden.“ „Leider haben wir einen zeitliche Kipppunkt erreicht“, nimmt Moderator Kawasser das Stichwort auf, die Poesiegalerie werde die Auseinandersetzung auf jeden Fall weiterführen. Fazit? Alle Fragen offen. Aber das kann bei Literatur ja nicht anders sein, weil sie nie zu Ende definiert werden kann.

19:40 bis 19:55 Uhr 

Zehn Minuten Verspätung haben sich eingeschlichen. Die Autor*innen des nächsten Leseblocks gehören zur den der Avantgarde nicht fern stehenden.

Lisa Spalt führt das Institut für poetische Alltagsverbesserung. Sie pflegt das „Manisoft“, den Gegenpart zum Manifest, also eine weiche Form der Behauptung, die sich gleichzeitig widerruft. Dem Publikum erklärt die Autorin, sie habe „leichte Kost“ mitgebracht, was natürlich ironisch zu verstehen ist, auch wenn es sich hier um Überformungen von Schlagern handelt.

Ebenso die Begründung in hatscherter Alltagsgrammatik: „Weil ich komme ja von ganz weit unten.“ Das erste Gedicht heißt „Trauern mit Biene Maja“ und verballhornt den Titelsong der gleichnamigen Zeichentrickfilmserie .„Verse versus Würmer“ lautet ein Refrain. Der Text wechselt zwischendurch ins Französische. Dann erklingt Englisch. Die „Variation über zwei alte Schlager“ liest Spalt für den seit August des Jahres in den heimischen Alpen vermissten Bodo Hell. „Ich wohne ja mehr oder weniger freiwillig in Linz“, sagt Spalt zu dem Lied über Linz mit Bezügen zu Schnulzen-Kinderstar Heintje. Es geht um Karl May und das Pferdchen des Heintje-Songs, der „mein Paradies“ wäre. „Pferde sind in Österreich seltsam beliebt“, konstatiert Spalt. Deswegen hat sie gleich noch ein Pferdegedicht mitgebracht. Vom Pferd ist der Weg nicht weit zum Zuckerl und zu den Parteien, die es verteilen. Die sinkende Sonne von Capri, Schwäne, Scheine – nichts ist sicher vor Spalts Sprachspaltereien mit dem Mehrwert des Nicht-mehr-zu-Ende-interpretiert-werden-Könnens.

19:55 bis 20:05 Uhr

Der im oberösterreichischen Ried im Innkreis geborene Christian Steinbacher beherrscht Ironie und Sarkasmus nicht weniger gut als Spalt. Er liest im Stehen aus seinem Buch Tanz der Rollvenen. Umschriften auf die Trios der Scherzi in den Symphonien Anton Bruckners erschienen bei Zeuys Books. Ein Kreisgedicht als „anarchischer Nachschlag“. In seinen Überschreibungen des oberösterreichischen Komponisten von Weltrang, dessen 200. Geburtstag heuer gefeiert wird, geht um ein Knie, und Handtuch bzw. Tischtuch reimt sich auf Brandung, während zum Knie der Refrain „schleicht dich ein wie hier nie“ gehört.

Steinbachers dramatischer Vortrag kann gut und gerne als symphonisch durchgehen. Dabei dirigiert er sich selbst mit gespreizten Fingern und sich hebenden und senkenden Händen, um dann deklamierend neben den Sitzreihen spazieren zu gehen. Später kommt eine Tröte zum Einsatz. Das Publikum johlt.

20:05 Uhr bis 20:20

Margret Kreidl hat Texte mitgebracht, die sie seit den 1990ern in der Zeitschrift manuskripte veröffentlicht hat. Dazu gehört eine Oper, Die schönsten Dinge, die in Amsterdam in einem Sall für Popkonzerte aufgeführt wurde. Pflanzen und Pflanzenteile werden da aufgezählt und ihre Lebensräume. „Und so geht das eine Viertelstunde weiter.“ Das sei schwierig für die Sängerin gewesen – und für müde Leser sei es auch schwierig zu lesen, fügt Kreidl hinzu. Auch sie kann Sarkasmus.

Im nächsten Text, etwa zehn Jahre später entstanden, dominieren das Stilmittel der Aufzählung erneut, wir befinden uns in der Natur und im Inneren eines Hauses. Zimmerpflanzen, Möbelstücke, Alltagsgegenstände, alles wird in diesem Rundgang minutiös beschrieben: „Die Badewanne hat einen Schmutzrand. Der Spiegel ist zerkratzt.“ Ein weiterer Zeitsprung, wieder zehn Jahre später: Wir befinden uns im Jahr 2013. „Nachtlied. Die Erde ist schwer. Leicht ist der Rauch.“ „Am Anfang war der Rhythmus.“ – Musik und Lyrik sind nicht zu trennen. Es folgen zwei Traumtexte aus dem Buch Einfache Erklärungen von 2014 (edition korrespondenzen). Gerhard Rühm kommt darin vor. „Gerhard, ich lese dich nicht nur, ich träume von dir“, sagt sie in Richtung des im Publikum sitzenden Rühm. Kreidl liest derzeit Charles Darwin – und über die Tierindustrie. Und richtet ihrem ebenfalls im Publikum sitzenden Verleger Reto Ziegler aus, dass sie darüber sprechen möchte, was das in Buchform werden könnte.

20:35 bis 21:15

Gerhard Rühm, der im Februar seinen 95. Geburtstag feiert, hatte sich in der Podiumsdiskussion eher zurückgehalten. Nun läuft er zu Hochform auf. Der Zuschauerraum platzt mit 70 Zuhörer*innen aus allen Nähten. Rühm liest nicht aus seinem letzten Buch die gefaltete uhr. 100 zahlendichtungen (Ritter), sondern hat auch „ganz Frisches aus der Produktion“ mitgebracht, entstanden in den „letzten Monaten, Wochen, Tagen“.

Das Publikum horcht gespannt auf: Literaturgeschichte live, sozusagen. Das erste Gedicht ist einer Blume gewidmet. „Die Blume scheint. Die Blume sucht. (…) Dieselbe Blume, die selbst scheint, scheint zu suchen.“ Und was sucht die Blume? Die Zunge. „Taubengegurre“ heißt das nächste Gedicht. „Schlägt’s ein Uhr, sagte die Taube, ich glaube, gurr, gurr“, beginnt es und schreitet durch die Stunden voran, um mit einer Pointe zu enden. Das Publikum lacht. Zahlen haben es Rühm immer noch angetan. „Die Erde geht zugrunde, in einer knappen Stunde.“ Seine Texte sind immer noch Kommentare zum Zeitgeschehen: „Pleite gegangene Banken können nicht mehr zahlen“, heißt es. Oder: „Vom Krieg nicht genug gekriegt.“ Der Liebe setzt ein berührendes Gedicht ein Denkmal. „Ein ganzes Jahrhundert lang umküsst, umküsst, umküsst“, endet es. „In höchster Erregung“, beginnt das nächste. Darin steigern sich Zahlen. Bis zu Milliarden. Und Verben. Oder Zeitspannen. „Kurz, länger, zu lange, ewig.“ Den Hang zur Aufzählung kann Rühm auch heute noch nicht zähmen. Trotzdem kann man seine Lyrik nicht als trocken bezeichnen. Zum Schluss bringt er das Publikum mit einer absurden Geschichte zum Schmunzeln und sogar zum Lachen. Szenenapplaus vor dem letzten Gedicht namens „Skriptomanie“. „Schreib!“, ruft es in unzähligen Variationen: „Schreib im Keller auf verschmutzte Teller.“ „Schreib Rhythmen wilde, für Hans und Hilde.“ „Schreib Zeilen, um zu verweilen.“ Ein Manifest. „Mir ist nicht bange, ich kann noch lange“, hört das Publikum vom Altmeister gerne. „Schreib an den Krieg, es gibt keinen Sieg.“ „Schreib mit der Zwiebel deine eigene Bibel.“ Begeisterungsstürme.

Im anschließenden Gespräch, das zu den Höhepunkten des bisherigen Festivals gehört, spricht Udo Kawasser die Skriptomanie an, die bei Rühm auch körperlich zu sein scheint. „Ich schreibe und schreibe, mit ganzem Leibe“, lautete eine Zeile. Rühm erzählt, dass er, wenn er um eins, halb zwei ins Bett gehe, plötzlich einen Satz habe. Er schreibe ihn auf, weil er ihn sonst vergesse. „Und schon geht’s los!“

Wann er schreibe? „Immer wenn mir was einfällt. Ich bin ja kein Bürokrat, dass ich jeden Tag was schreibe. Außer wenn ich Tagebuch schreibe, was ich in letzter Zeit gemacht habe, da schreibe ich jede Nacht.“ Die Innovation sei in der Kunst immer noch einer der wichtigsten Momente, meint Rühm, „und wenn ich gemerkt habe, dass ich etwas ganz ausgequetscht habe, mache ich was Neues.“ Auf seine Entwicklung angesprochen, betont Rühm die Rolle der Musik in seinem Leben. 1954, mit Gründung der Wiener Gruppe, habe sich das auf die Poesie verlagert. „Aber es war eigentlich immer alles gleichzeitig da.“ Ob er seine Theaterstücke, die er als Kind geschrieben habe, wegschmeiße, wisse er noch nicht. „Aber ich habe ja noch einige Jahre zu leben. Hoffe ich.“ Seine Entwicklung sei kontinuierlich gewesen, er könne unvollendete Werke aus dem 1950er problemlos fortsetzen, wenn er wolle. „Ich war nie gläubig in meinem Leben, Gott sei Dank.“ Trotzdem habe er als Kind Gott in einem Satz gebeten, ihn einen berühmten Musiker und Dichter werden zu lassen. „Wäre das jetzt ein Gottesbeweis?“, will Kawasser wissen. „Nein, für so was hat Gott ja keine Zeit“, meint Rühm trocken. Was er an zeitgenössischen Entwicklungen spannend finde? Die Technik biete da viele Möglichkeiten, meint Rühm. „Für mich ist die Poesie noch nicht zu Ende. Es gibt aber auch gefährliche Sachen. Die KI halte ich für äußerst brisant. Denn irgendwann kann die KI Entscheidungen treffen, die nicht mehr mit unseren Vorstellungen zusammenhängen. Ich beschäftige mich damit, aber es interessiert mich nur bedingt.“ Wie kann man bis ins hohe Alter produktiv bleiben? „Viel lesen, viel diskutieren und sich beschäftigen mit einer Fortführung des Möglichen.“ Am Schluss bedankt sich Rühm für die Aufmerksamkeit des Publikums und dafür, dass der Raum so voll sei mit sympathischen Leuten. Gelöste Stimmung. Als alle Richtung Pause strömen wollen, entschuldigt sich Rühm noch, dass es keine Ignoranz sei, wenn er jetzt gehe. Er habe bis sechs Uhr früh geschrieben, und es stelle sich jetzt doch eine gewisse Müdigkeit ein. Gleich kann er aber noch nicht entschwinden, denn das Publikum steht mit Büchern zum Signieren an, am Büchertisch ist Rühm ausverkauft. 

21:20 bis 21:30

Es geht weiter mit einer Bereicherung des Programms: drei Poesiefilmen in Kooperation mit dem Vienna Poetry Film Festival, und zwar von Jörg Piringer, „Voll“, Marc Neys, „A Dream“ und Helena Vollmann, schtzngrmm“ – wie eines der bekanntesten Gedichte von Ernst Jandl heißt. In ersterem sieht man ein handgeschriebenes Notizbuch, in dem händisch geblättert wird. Für den Informatiker, der Lyrik gerne am Computer generiert und bei Limbus im Frühjahr den Band „fünf minuten in die zukunft“ vorlegte, mit visueller Poesie, die analoge und digitale Welt verschmilzt, wohl eine paradoxe Intervention. Man liest mit: „voll gut voll spät, voll arg (…) voll voll.“ Bei „voll leer“ klafft zwischen den beiden e eine ganze Seite, zumindest von links oben bis rechts unten. Marc Neys „Traum „beginnt mit Vögeln am Himmel in Zeitlupe und einer Sicht auf die Welt aus deren Perspektive. Industrieanlagen, Schrott, Blätterranken: Natur und deren Zerstörung sind das Thema dieses Traums, der wohl eher ein Alptraum ist. Die Umsetzung des Jandl-Gedichts „schtzngrmm“ von Helena Vollmann erfolgt mit verzerrten, verbogenen Gedicht-Wörtern, die Formen bilden, wie ein Gehirn, ein Herz, und sich wie Gleise über das Bild schieben. Unheimlich, wie martialisch Wörter wirken können.

21:30 bis 21:45

Michael Hammerschmid kuratiert in der Alten Schmiede das Dichtfestival Dichterloh.

Für seinen Gedichtband für Kinder wer als erster erhielt er 2022 den Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Wien und 2023 den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis, für stopptanzstill! den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2024.

Entsprechend hoch hingen die Erwartungen an seinen neuen Band was keiner kapiert mit Gedichten, die sich erstmals ausschließlich an Jugendliche wenden, erschienen bei Jungbrunnen und wunderbar illustriert von Barbar Hoffmann. Hammerschmid liest „ein bisschen von hinten nach vorne“, ohne vorherige Erklärungen. Leider zu schnell, um die hochphilosophischen und doch alltagsnahen Texte atmen und sich entfalten zu lassen, um die zarten Anspielungen zur Wirkung kommen zu lassen. Salopp im Ton, aber voller zärtlicher Genauigkeit kommen diese Gedichte daher. Sie stecken ganz im Bewusstsein von Pubertierenden, aber das Erwachsenenbewusstsein ist davon ja auch oft nicht weit entfernt. „singlesong“ heißt das erste Gedicht, das zuletzt gelesen wird, und der Titel meint einen Tag ohne Handy. „mein handy ist ein / bienenstock für heute / lass ihn sein“. Aber das lyrische Ich will auch sonst niemanden sehen: „heute ist ein langer / tag an dem ich niemand / sehen mag / ich bleibt heut allein / allein / alleinallein / allein“, trällert es weiter. Bei der Wendung „Heast scheiß Gott noch einmal“ dankt das Publikum mit einem Lachen.   

21:45 bis 22:00

Mira Magdalena Sickinger arbeitet an ihrer Dissertation im Fach Philosophie und lehrt an der Universität Wien.

Ihr Lyrikdebüt Für euch vergossen heißt im Untertitel „Poesophie“, erschienen bei Klever. „Man soll ja nichts erklären,“ sagt sie, und beginnt gleich zu lesen. Das Mikro spinnt. „Wie passt’s denn? Es war auch schon zu laut“, sagt Sickinger. „Es soll auch nicht zu laut sein.“ Ihre Lyrik tritt nicht leise und schlägt sich auch nicht auf die theoretische Seite, sondern kommt vollmundig und sehr körperlich daher.

Masturbieren, saufen, ficken – Sickinger hegt keine Scheu vor Themen, die als unsauber gelten. Und bettet sie in Geist, in Reflexionen ein. Die „Donauinsel“ und der „tyrrhenische“ Kies gehören bei ihr zusammen. Bachmann wird aufgerufen, dann kommen die Motorhaube und der Heurige ins Spiel. Auch der Theseustempel im Wiener Volksgarten darf nicht fehlen bei dieser Zusammenschau von Antike und Gegenwart, von Sinneslust und der Liebe zur Weisheit. Auch die Psalmen werden neu interpretiert. Wer den Band nicht kennt, weiß nicht, dass ihm ein musikalisches Prinzip zugrunde liegt. Vielleicht würde es den Genuss beim Zuhören doch vergrößern, wenn Sickinger ihr Konzept ein wenig erklärt hätte.

22:00 bis 22:15 

Die Moderation übernimmt nun Rhea Krčmářová. Sie stellt Benedikt Steiner vor, der gemeinsam mit dem Komponisten und Musiker Schayan Kazemi auftritt. spuren in einem heißt sein Lyrikdebüt, erschienen bei Text/Rahmen. „Nie gleich“ – gleich dreimal wird die Zeile gelesen, und dann untermalt von Musik, dann noch einmal und in Folge noch viele Male. Orgelähnliche Synthesizer-Klänge unterstreichen die Ruhe, die von diesen Texten ausgeht. Jedes Wort erhält Zeit und schwebt im Raum. Raunend, fast flüsternd deklamiert Steiner, zwischen Erzähler und Rezitator. „Nie gleich“ bleibt das Ostinato dieses Musik gewordenen Gedichts, das illustriert, wie sich alles verändert. Aber manches bleibt auch übrig. „Erlebt, gehabt, abgelegt“, lautet ein Refrain. Aber das, was übrig bleibt, muss sich auch wieder verändern.

Diese Gedichte ähneln Variationen über Begriffe wie Wurzeln, Räume, Samen, Sprünge, Schritte – sie hängen schwerelos im Abstrakten, sind Meditationen über Gegebenheiten und Strukturen des Daseins. Die Frage „Was denn tun?“ bricht unvermittelt ein. Immer wieder schließt Steiner die Augen und spricht auswendig weiter, ein außergewöhnliches Highlight im Rahmen von vielen manchmal despektierlich „Wasserglaslesungen“ genannten Auftritten …

22:30 bis 22:45

Sanja Abramović stammt aus Kroatien und kam mit neun Jahren nach Österreich. Sie lebt in Eisenstadt, wo sie Deutsch und Kroatisch unterrichtet. Sie veröffentlichte bislang Lyrik in Zeitschriften. „Heimsuchung“ (Edition LexList) ist ihr Buchdebüt mit Erzählungen und lyrischen Bruchstücken.

Sie stelle eine „komische Auswahl“ vor, entschuldigt sich die Autorin zu Beginn, um dem Lyrikthema der Poesiegalerie gerecht zu werden. So hätte das bestimmt niemand von den Zuhörenden genannt. „Schlechte Ausreden sollten sich wenigstens reimen“, heißt es einmal im Text. Abramović kommt ohne Reime aus. „Ich muss Kaffee trinken, bevor ich ein Gedicht schreibe“, beginnt eine Reflexion über das Schreiben. „Wenn ich an Paarungszeiten denke, denke ich an Wodka und Red Bull“, hebt ein anderer Text an, der in den Alltag eintaucht und auch den „idealen BH“ beschreibt. Amüsement im Publikum. „Es ist April und du schickst mir Songs, die nach Regen klingen.“ Abramović’ Texte funkeln, atmosphärisch und exakt, mit Beschreibungen von Natur zwischen dem Burgenland und Kroatien, sie handeln von Menschen und Beziehungen, von Sehnsüchten und Erinnerungen und enthalten Sätze, die man sich merken will: „Wir sind eine Landschaft, die für ihre Krater die besten Lichtverhältnisse sucht.“

22:45 bis 23:00

Avy Gdańsk, Jahrgang 1991, wurde von der Zeitschrift Lichtungen für die Lesung nominiert. Gdańsk verbittet sich Pronomina. Gdańsk lebt in Wiesbaden und schreibt in Deutsch und Englisch.

„Avy Gdańsk grew up in a cherry tree. Their last name is a tribute to the things that inspire them most: German Romanticism and Rock’n’Roll“, kann man auf tintjournal.com lesen. Der Uterus, die spitzen Knie der Kirche, die Zeit, ein Gauner zu werden, Krokodilsbeine, blutrünstige Venushügel – diese Texte sind bevölkert von unkonventionellen Gedanken und Wendungen. „Meine Beine schnappen nach Luft.“ „Bevor ich dich vergesse, warte ich auf das nächste Mal, wo du mir in den Sinn kommst.“ Ihr Sinn scheint sich unmittelbar zu erschließen und hinterlässt dann viel Stoff zum Denken, Löcher, in die man stolpert. Immer wieder tauchen Beine auf. In der Realität verankert, und vermag Gdańsks Lyrik trotzdem abzuheben. Zum Schluss folgen Texte, die auf dem Blog „Die gelbe Tapete“, einem FLINTA-Kollektiv, erschienen sind. Dort heißt es: „dieses formular ist die möglichkeit, einen text einzureichen, der unter pseudonym, klarnamen oder auch völlig anonym auf unserem blog erscheint, wenn wir ihn inhaltlich freigeben können (das bedeutet, er zur form der tapete passt (siehe beiträge) und keine misogynen, rassistischen ua problematische elemente enthält).“ Männer bekommen von Gdańsk aber trotzdem ihr Fett ab. „Ich habe schon viele Männer damit verschreckt, Gedichte über sie geschrieben zu haben.“

See Also

23:00 bis 23:15

Die syrische Autorin Kholoud Charaf kam über Polen, Lettland und Deutschland in Wien an. Ihre Gedichte wurden in zehn Sprachen übersetzt. Mit all meinen Gesichtern erschien bei Klever.

Weil Kholoud Charaf krank ist, wird ein Video abgespielt, in dem sie auf Arabisch liest, danach rezitiert Udo Kawasser als Stellvertreter ins Deutsche übersetzte Texte aus dem Buch, das Lyrik und Prosa enthält und damit in einem derzeitigen Trend liegt, der die Genres nicht mehr streng trennt oder gar zu lyrischer Prosa oder erzählender Lyrik fusioniert. Begleitet wird er von Orwa Alshoufi auf einer Kurzhalslaute namens Oud. Alshoufi studierte orientalische Musik am Higher Institute of Music in Beirut, Libanon und leitete in Syrien u.a. das Nineveh-Institut für Musik und Gesang. An der Bruckner Universität in Linz folgte ein Studium von Instrumental Jazz und improvisierter Musik.

„Eine Gabe von Ishtar“ beginnt der erste Text und spielt damit auf eine Figur an, die auch im europäischen Kulturkreis bekannt ist. Es geht um das Begehren und das Opfer, das der Liebesgott verlangt. Kholoud Charafs sinnliche Liebeslyrik ohne Scheu vor leidenschaftlichen Gefühlen und verzehrender Traurigkeit erweist sich als tief in der Kultur des Nahen Ostens verwurzelt. Gegen halb zwölf sind immer noch dreißig Zuhörerinnen da, die gebannt lauschen.

23:15 – 23:30

Michaela Hinterleitner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft (Schwerpunkte Hörspiel und Figurentheater). Sie ist Bestandteil der Grillhendl Rotation Crew und Autorin bei das fröhliche wohnzimmer.

Jetzt liest sie aus zwei Büchern, die dort erschienen sind: Kleine Korrespondenzen (2019) und Die Common Sense (2015) – tatsächlich ist auf dem Cover des Buchs, das auf dem Notenständer steht, eine Sense zu sehen. Die Texte sind in Wien verortet. „I brumm“ spielt am Brunnenmarkt und bewegt sich an der Brauerei Ottakring vorbei, um zum Wilhelminenberg aufzusteigen. Es folgt eine Hymne auf Schnitten (eine Anspielung auf die ebenfalls in Ottakring produzierten Manner Schnitten), die eine gute Notfallsration seien und gute Haare hätten. Humor und Augenzwinkern feiern hier fröhliche Urständ. „Schnitten sind übrigens oft in Wohnzimmern anzutreffen.“ Die Autorin scheint trotz der fortgeschrittenen Zeit noch, verschmitzt und gut aufgelegt, ihren Vortrag zu genießen. Deswegen gelingt es ihr auch mühelos, das müder werdende Publikum bei der Stange zu halten. „Wenn ich erst Regenbogen bin, werd ich die Goldtöpfchen verschenken“, verspricht sie zum Schluss.

23:45 Uhr bis Mitternacht 

Fritz Widhalm betreibt mit Ilse Kilic den Verlag das fröhliche wohnzimmer.

Er liest zunächst aus der Anthologie Wo es brodelt und zischt (das fröhliche wohnzimmer) und dem Band Chronik der kleinen Gedanken. Fußnoten zur Weltgeschichte (edition tagediebin). Zuerst den Text zum Bild „Der Kuss“ von Ilse Kilic. Dann folgen „ein paar Gedichte aus meinem Alterswerk“ – sie werden vom Manuskript gelesen, scheinen also kürzlich entstanden zu sein. Widhalm begrüßt die Unvollkommenheiten des Alters. Das Bier erfrischt immer noch.

„Die Vögel singen wie zuvor. Ich habe Freude übrig.“ Die Flasche Bier kann aber noch mehr. Sie will ein Text sein. Vor ihm steht die gelbe Ottakringer-Dose vom Poesiegalerie-Buffet und macht den Vortrag glaubhaft. „Alle meine Texte sagen Prost und nicht Amen.“ Das Knie „ist alles, was wehtut“. „Die Hoden drehen auch durch. Sie ziehen ohne Unterlass. Mich hat niemand gefragt, ob ich Hoden will.“ Auch über die Größe erfährt man etwas: Sie sind so groß „wie Ilses Grießnockerln“. Er selbst bezeichnet sich als Menschen mit störrischer Frisur und gastfreundlicher Unterwäsche. Das erheitert. „Gaisberg 11“ ist Widhalms Geburtsadresse, das gleichnamige Gedicht erzählt von Onkeln und Tanten, echten und unechten. Sein Vater hatte elf Geschwister. Da gehen sich einige blutsverwandte und angeheiratete Onkel und Tanten aus. Inkludiert sind aber auch Freunde der Eltern, Großtanten. Ein Onkel war Heimatdichter. „Dann wurde auch ich zum Dichter. Ohne Heimat.“ 

Mitternacht bis 00:15

Es haben noch gut 20 Menschen ausgeharrt.

Veronique Homanns Arbeit definiert der Verlag Kopf&Kragen, in dessen Anthologie U8 Untergrundminiaturen (2022) ihr Text „Die Haltestelle“ erschien, wie folgt: „Im Zentrum ihrer Arbeit steht das Auffinden und Füllen von Lücken, eine Praxis, die sie Lückologie nennt.“

Das verheißt Eigenwilligkeit. Veronique Homann, Jahrgang 1990, liest aus ihrem Band Ave Paria (edition tagediebin). „Das Heft versammelt im ersten Teil titellose Gedichte, darunter die erste von zwei Referenzen an das Ghost Heart auf dem Cover, einen Abgesang auf die Avantgarde“, verrät die Homepage. Es fängt mit einer Verballhornung des Ave Maria an: „Gegrüßet seist du Paria.“ Und geht weiter: „Du bist vermaledeit“ Gotteslästerung inkludiert: „Heilige Paria, Kind Gottes.“ Homann trägt ihre Texte allerdings mit einem genussvollen, beinahe süffisanten Lächeln vor. Ein Gedicht ist Ilse Kilic gewidmet: „Schicksal nein, Serendipität ja.“ Und der Abend, der mit einer Bilanz der Avantgarde begann, endet mit deren Verabschiedung: „Im Vertrauen: Avantgarde ist passé“. Starke Worte und ein starker Abschluss.

Die aus Ungarn stammende Sprachwissenschaftlerin, Visual&Sound-Poetin, Illustratorin und Kulturmanagerin Kinga Toth, derzeit MQ-Writer-in-Residence, ist leider krank, ihre Performance MariaMachina“ fällt aus.Immerhin ist ihre Installation mit zwei Objekten, die Rettungsringen ähneln oder auch Adventkränzen, Teil der Transmedialen Poesiegalerie an den Wänden. 

Es folgt die Bücherverlosung. Bis zwei Uhr klingt der Abend mit Wein, Bier und Literaturgesprächen aus.

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