Petra Ganglbauer liest Renate Welshs Leih mir dein Ohr
Eine tiefe Gewissheit jenseits aller Zweifel und eine unumstößliche Lebensreife zeigen sich in jedem der Gedichte des vorliegenden Bandes. Renate Welsh verschont uns nicht mit tiefschürfenden Erkenntnissen, die aus großer Bewusstheit heraus geschrieben sind. Mitunter mutet ihre Sprache so klar und deutlich an, dass sie hart wirkt. Es ist die Härte der Authentizität, die lebensnotwendig scheint.
Fragen zu stellen und die Antworten darauf wiederum in Frage zu stellen sind wohl Überlebensstrategien. Dergestalt entsteht aber auch eine stete Pendelbewegung von der Frage zur Antwort und zurück. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass es keine Sicherheit im Leben gibt.
Cover © Czernin
Erfahrung, festgezurrt in Worte, bevor sie sich verflüchtigt, für immer verloren, nicht fassbar, wartet auf Antwort, die sie klärt, zum Besitz macht, vielleicht in Frage stellt. Auch das ist Antwort, ist Echo, schafft Räume, in denen Verant-wort-ung möglich ist.
Sprachkritik
Eben dieses jedem Text innewohnende Gefühl für Verantwortung, dem eigenen wie dem Leben anderer gegenüber, macht die Gedichte so überzeugend. Es ist ihnen zudem eine Art fruchtbringende Schonungslosigkeit immanent, die den Sprachgebrauch oder besser die Sprache selbst und ihre Mechanismen hinterfragt; diese Lektüre entlässt uns also nicht so rasch in gewohnte Denkmuster.
Kann sein, dass es die Wörter nicht gibt, die ich brauche. Kann sein, dass sie verschüttet sind, Murenabgang zwischen den Zähnen (…) Hier braucht es Krampen und Spaten.
Das gesamte erworbene handwerkliche Instrumentarium ist also vonnöten, um das verdeckte, verdrängte, zugeschüttete Existenzielle des Lebens an die Oberfläche zu holen, um es zu betrachten und einzuordnen. Doch über allem liegt die Latenz des Abschieds, des Verlusts: „Die Zeit, die ich verloren habe, / hockt auf dem Dach.“ Diese Einsicht verleiht den Texten zusätzliche Schärfe. Eine Schärfe der Genauigkeit im Umgang mit den Dingen, den Wesen, den Erlebnissen.
Renate Welsh spannt reflektierend den Bogen vom Privaten zum Gesellschaftlichen, Globalen. Die Unfähigkeit, einander zu verstehen, kann lebensgefährlich sein.
Aus den Trümmern unserer Missverständnisse hatten wir Mauern gebaut und uns darin verschanzt. Als wir die weiße Fahne zu hissen versuchten, hing bald ein dreckiger Fetzen im Wind.
Denn: „Die Macht ist ein Monster, / voller Gier.“
Zwischen Gewalt und Besänftigung
Manchmal erzählen die Gedichte von schauerlichen Zuständen und Befindlichkeiten, sie tun dies in aller Deutlichkeit und auf eine beinahe krasse, sinnvollerweise äußerst explizite Weise. Etwa im Gedicht „Warum?“:
Lebenslänglich Einzelhaft ohne Hoffnung auf Gnadenerlass, rütteln an den Gitterstäben, bis die Knöchel bluten (…)
Doch es gibt eine Lösung, eine Handreichung:
Ich träumte von einem Versöhnungstag mit allen, an denen ich schuldig geworden bin, den Lebenden und den Toten.
Einige der Gedichte tragen eine Qualität in sich, die eine erarbeitete, erworbene Zentriertheit transparent macht. Es sind jene Textstellen, die das stets wachsame, selbstkritische lyrische Ich durch ihr So-Sein besänftigen. In ihnen spricht die Natur in all ihren Facetten, Wesenheiten, Farben, Formen. Manche von ihnen sind Reisegedichte. Genau diese Texte erinnern oft in Teilen, zwar nicht formal, jedoch in ihrer „Schau“ an Haikus. Sie muten wie kontemplative Inseln des Innehaltens und der Leichtigkeit an und trotzen damit der Schwere des menschlichen Daseins. Kleine Betrachtungen sind das, behutsamen Studien gleich. Sie lassen aufatmen, weichen das Gewicht der ganz realen Welt ein wenig auf, machen diese durchlässig und fragil, wie im Gedicht „Eremiti“:
(…) im glänzenden Laub ein Schmetterling faltet die blauen Flügel, Wasser plätschert, ein Vogel ruft.
Diese Fragilität tröstet. Ebenso zärtlich muten jene Gedichte an, die von der Interaktion eines „Ich“ und eines „Du“ erzählen, wobei oft nicht ganz offensichtlich wird, ob es sich um Personen oder Spiegelungen des „Ich“ handelt. Vielleicht ja um beides zeitgleich.
Du bist mein dunkler Scherenschnitt. Wir könnten einander anschauen, ohne zu blinzeln, ich dich, du mich.
Renate Welsh berührt in diesem Buch das weite Spektrum irdischer Existenz, indem sie stets auch etwas Unerklärbares, Unfassbares mitschwingen lässt.
Renate Welsh: Leih mir dein Ohr. Gedichte. Czernin Verlag, Wien, 2024. 84 Seiten. Euro 20,–