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Das Ich auf der Suche nach sich selbst

Das Ich auf der Suche nach sich selbst

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Christian Schacherreiter liest Kirstin Breitenfellners Gedichte ohne ich.


Lyrik, insbesondere die sogenannte „moderne“, hat ein Nahverhältnis zum Ungeklärten. Sie bezieht ihren Eigen-Sinn aus der Mehrdeutigkeit, aus semantischen Ambivalenzen, verschwimmenden Grenzen, Neologismen und Chiffren, die überzeugen können, ohne etwas zu behaupten.

Daher ist man, bevor man sich auf Kirstin Breitenfellners Gedichte ohne ich einlässt, versucht, die letzten sieben Seiten des Bändchens zu lesen, eine Art Nachwort, in dem die Autorin über ihre eigenen Gedichte nachdenkt. Der erste Satz „Der Titel ist ein Rätsel, auch mir selbst“ macht zwar wenig Hoffnung auf eine klärende Selbstinterpretation, den einen oder anderen Verständnishinweis gibt aber das Nachwort sehr wohl.

Cover © Limbus Verlag

Tatsächlich ist es irritierend, dass schon das erste dieser „Gedichte ohne ich“ mit folgendem Vers beginnt: „ich bin ein usurpator“. Es kommt noch dichter: In den ersten drei der insgesamt zehn Abschnitte lesen wir das Personalpronomen „ich“ rund 60mal. Zählen wir auch Reflexiv- und Possessivpronomina dazu, staunen wir über die kräftige Präsenz eines Ichs, das es laut Titel in diesen Texten gar nicht gibt.

Es geht Kirstin Breitenfellner nicht darum, das Ich auszulöschen, sondern darum, trügerische Ich-Sicherheiten zum Tanzen zu bringen und allzu schlichte Vorstellungen von einem durchschaubaren oder gar autonomen Selbst beharrlicher Kritik auszusetzen. Damit knüpft sie an den philosophischen Diskurs über das Subjekt an, der sich seit der Aufklärung hartnäckig behauptet.

Kant zeigte dem Subjekt seine Erkenntnisgrenzen, Schopenhauer reduzierte es auf die dumpfen Kräfte Wille und Vorstellung, Ernst Mach meinte, es sei ohnedies nicht zu retten, und neuere Phänomene wie Trans- und Posthumanismus verkünden uns auch keine ermutigenden Neuigkeiten. Irgendwie schwingen diese Diskurse in den „Gedichten ohne ich“ mit, auch wenn sie nicht explizit zitiert werden. Dass sich Kirstin Breitenfellner als Lyrikerin auf dieses weite philosophische Feld eingelassen hat, war mutig; tollkühn war es aber nicht, denn Breitenfellner kann, was sie tut!

Dichtung ist das Medium des Zweifels

Der Mensch, ausgestattet mit Vernunft, ist dazu ermächtigt (oder auch verurteilt), über sein „Ich“ nachzudenken. Wer diese Herausforderung bewusst annimmt, wird demütig. Bedingtheit und Begrenztheit seines Daseins werden ihm bewusst. Begrenzt sind wir durch unsere natürliche Ausstattung, unsere Sterblichkeit, unsere Anfälligkeit für Irrtümer, unsere fragile Positionierung in Zeit und Raum. „In Friedenszeiten“, schreibt Breitenfellner, scheint uns das Ich begreiflich. Sie verleiten uns zu „hochfahrenden Zukunftshoffnungen, fröhlicher Selbstverliebtheit […]. In Krisenzeiten hingegen – ob in Epidemien, Kriegen oder Naturkatastrophen – gerät das Ich in Bedrängnis, selbst wenn es nicht unmittelbar betroffen zu sein scheint.“ Dem Menschen wird bewusst, dass ihn Natur und Gesellschaft „mir nichts, dir nichts degradieren“ können.

Das „Geschäft der Dichtung“, meint Kirstin Breitenfellner, ist nicht Klärung oder gar Trost, sondern die „Aufrechterhaltung des Zweifels“. Dichtung ist die „Kunst der unzureichenden Vergleiche […], die aber trotzdem ins Schwarze treffen können […], nicht wahr und trotzdem richtig.“ In Breitenfellners lyrischer Begleitung bewegen wir uns also in ungesichertem Gelände. Das mag für die Autorin ein Grund sein, zumindest eine gesicherte lyrische Form zu wählen: das Sonett – zwei Quartette, zwei Terzette, kunstvoll gereimt, rhythmisch strukturiert, einladend zu einer vermeintlich klaren Ansage und einer Konklusion, die aber dann doch nicht so recht zu fassen ist. Die Gedanken, die hier zu Versen werden, führen nicht zu „Wahrheiten“, sie tanzen suchend um ihr Zentrum.

In den ersten vier Abschnitten des Zyklus (mit aussagekräftigen Titeln wie „ermächtigung“ und „selbsterschaffung“) fokussiert Kirstin Breitenfellner das Ich unter wechselnden Perspektiven. Das Subjekt macht sich selbst zum Objekt. Eine Schlüsselfunktion zum Verständnis kommt dem Sonett mit dem Eingangsvers „bewegung wohnt auch in steinen“ zu. (S.38) Alles fließt! Leben ist gestaltende und zerstörende Bewegung, die das Wasser fließen, die Pflanzen und Menschen leben lässt, aber auch den „erdenmantel“ aufreißt. Das Ich „spielt nur zeitweise gast / macht in den zellen fette rast / sie haben es sich erschaffen“. Sie können es aber auch wieder verschwinden lassen, denn „das leben erkor sich das ich / und findet, es braucht es doch nicht“.

Das tätige, strebende, mutlose Ich

Tätigkeit und Streben benennt Kirstin Breitenfellner als Wesenszüge des Ichs. Das erinnert an Goethes „Faust“. Goethe lässt seinen Protagonisten den „lógos“ aus dem Johannes-Evangelium ziemlich eigenwillig übersetzen: „Im Anfang war die Tat.“ Tätigkeit sah Goethe als wesentliches Merkmal der unermüdlich „wirkenden Natur“, in und mit ihr wirkt auch der Mensch, der „ewig strebend sich bemüht […].“ Ähnlichem Vokabular begegnet man bei Breitenfellner:

See Also

das ich ist immer tätig
es strebt auf etwas zu
dass es sich selbst bestätigt
es lässt sich nicht in ruh

(S.16) 

Zum Streben und Tun des Ichs gehört auch der Wille zur Selbstgestaltung und moralischen Selbsterhöhung („es hält sich selbst für gut“), dem Breitenfellner Bilder der Mutlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit entgegensetzt: „[…] es hat so wenig mut / es sucht an andern halt“.

Während das mutlos gewordene Ich Unheil „erspürt“ und mit sich selbst „nie ins reine“ kommt, verdrängt das sich selbst ermächtigende „Ego“ die Grenzen und Gefahren.

es spielt ein leben vor so froh
verfolgt brutal von der natur
es tanzt und poltert roh
kennt zweifel nicht und stur
löst sämtliche probleme so
im blindflug nur 

(S.17)

Das Zweifel verdrängende Ego wähnt sich mächtig, aber „die macht ist illusion“ (S.72), nicht nur die Macht über Natur und Geschichte, auch die über das eigene Dasein, denn:

am ende verdämmert das ich
zerfällt sich zusammen ins mich
am ende verlebt sich der wille
das ich richtet ein sich in stille 

(S.77)

Wenn man nun den Eindruck bekommt, „Gedichte ohne ich“ sei ein pessimistischer Zyklus mit tiefschwarzer Grundierung, vor dem man Menschen mit labiler Psyche warnen müsse, so ist eine Korrektur angebracht. Eigentlich spricht die Autorin nur essentielle Erfahrungen und anthropologische Erkenntnisse der Moderne aus, die allerdings im alltäglichen Tun und Streben verdrängt werden. Und immer wieder begegnen wir nicht gerade enthusiastischen, aber immerhin heiteren Bildern, Hinweisen auf das kleine, gute, beglückende Erlebnis: „[…] du stolperst munter / werdend in den tag, es schellt / das leben und wird bunter“. (S.44) Oder auch so:

[…] der abend sucht ein kleid
und sei es ein kostüm
entscheide dich bereit
für eine ankunft unverblümt
der mußestunden unbereut 

(S.47)

Kirstin Breitenfellner: Gedichte ohne ich. Limbus Verlag, Innsbruck-Wien, 2024, 96 Seiten, Euro 15,-

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