Johannes Tröndle liest Greta Maria Pichlers Salzwasser
Den riesigen, auch in seinen poetischen Dimensionen reichlich besungenen Assoziationsraum zwischen „Träne“ und „Meer“ durchmisst der Titel von Greta Maria Pichlers erstem Gedichtband. Gängige Trauer- und Tiefseeerkundungen werden von der in Südtirol aufgewachsenen und in Wien lebenden Sprachkunst-Absolventin der Wiener Universität für angewandte Kunst allerdings konsequent vermieden.
Cover © Verlag Matthes & Seitz
Mehr an Fachsprache denn an Gefühlsausdruck orientiert, sind die meisten Texte nüchtern im Ton, aber von nichtsdestotrotz spielerischem, oft rätselhaftem Charakter. Etwa das Gedicht „tränenflüssigkeit“:
wir wählten die stehhöhe aus mit bedacht. standen in gleicher entfernung zum meeresmund, aus dem die wellen krochen, an den zehen leckten. du warst früh ausgeschieden, das wasser kam dir gleich am nächsten. ganz nah, sodass es dich anspülte. ich blieb viel länger trocken. in schichten wurd ich abgeholt, abgetragen, bis ich rannte.
Als Triptychon aufgespannt, zeigt sich der Band als sorgfältiges Arrangement verschiedener Textsorten. Dreimal rund fünfzehn Prosagedichte (wie das eben zitierte) bilden dabei den Hauptteil. Bildhafte Titel wie „küstenreise“, „tentakel“ oder „wüstentage“ treffen auf technisch klingende Begriffe wie „farbverlauf“, „materialschonend“, „problemkreis“ und „lösungsorientiert“. Manches („chill“ oder „dieb down“) scheint auch mit einem leichten Augenzwinkern gesetzt. Das Meer ist als Bezugsgröße in allen Texten präsent – es wird beschwommen, durchtaucht, mit Booten befahren oder fungiert als Sinnbild für Bewegung, Wellen und Rauschen. „Ich“ und „Du“ tauchen auf, verschwinden wieder, formen sich zu einem „Wir“.
Ein zweites Leitmotiv durchzieht oder durchweht die Gedichte: der Wind. Dieser ist nicht nur inhaltlich präsent, denn auf den Seiten jeweils rechts unten sowie vertikal von unten nach oben gesetzt – als „Aufwind“, könnte man interpretieren – sind den Prosagedichten Windstärke-Angaben beigefügt, von „0 Bft/Windstille, Flaute“ bis „11 Bft/orkanartiger Sturm“. Jeder der drei Zyklen verfolgt so einen an- und wieder absteigenden Kurs, zeichnet im An- und Abschwellen des Windes eine Erregungskurve nach, wobei auch dieses Prinzip spielerisch gedacht und teils lustvoll sabotiert wird. Dem folgenden Gedicht, „unter vorbehalt“, etwa ist der durchaus unpräzise Wert „Schnuppe Bft/ Schnurzpiep egal“ mit auf den Weg gegeben:
dein schwimmen ist wie fliegen, ich bin so neidisch, dass das jucken jetzt zum brennen wird. alles machst du genau richtig und auch noch vor. es sieht leicht aus, losgelöst vom dich umgebenden, frei. nur die eingeschlagene richtung ist mir bis auf weiteres unklar.
Orientierung bei Unklarheiten bieten den Gedichtzyklen jeweils angefügte Glossars („Wasserspiegel 1–3“), u.a. mit der gerade zitierten Abkürzung „Bft“ (Beaufortskala zur Messung der Windstärke) und nautischem, physikalischem oder meeresbiologischem Vokabular – oder auch mit der seemannssprachlichen Bedeutung von „Fische füttern“: Erbrechen aufgrund von Seekrankheit. Bemerkenswert dabei, wie sich Glossar und Gedicht, die eigentlich zwei gegensätzliche Formen darstellen (das Gedicht, das gerade nicht erklärt), wechselseitig durchdringen: So wird die Definitionsmacht des Glossars durch seine Betitelung als „Wasserspiegel“ poetisch gebrochen, andererseits nehmen die Prosagedichte auch selbst teils den Duktus eines Lexikoneintrags auf – etwa im Gedicht „stilfragen“:
für ein gänzliches verständnis der bewegung – fortbewegen, kommen, gehen, treiben, schweben – ist beim schwimmen die zusatzangabe des den körper umgebenden elements notwendig. dieses gibt außerdem aufschluss über eine der beschreibung der bewegung eventuell zugrunde liegende emotion. im schwimmen nimmt der körper im regelfall keine bis kaum flüssigkeit auf, unabhängig davon, wie trocken er ist. ich kraule in arbeit, du schmetterlingst in geld.
Weitere Textsorten vervollständigen den Band. „Floß“ – in wiederum dreifacher Ausfertigung – ist kursiviert und zweispaltig gesetzt und hat den Charakter einer Materialsammlung: Notate, zufällig nebeneinander zu liegen gekommen wie Strandgut. Und der ungefähr in der Mitte des Bandes angesiedelte Text „MEER DATEN MEHR“ führt das Notizbuch ganz direkt vor Augen: Die quer über die Seite verteilten Verszeilen sind mit hellgrau durchscheinenden handschriftlichen Listen, Zahlen- und Datumskolonnen hinterlegt, die an ein Logbuch denken lassen.
Überhaupt fällt die visuelle Gestaltung des Bandes auf. Die drei „Wasserspiegel“ etwa sind – wie die Lösung eines Rätsels – im Schriftbild verkehrt herum gesetzt, sodass man das Buch beim Lesen des Glossars um 180 Grad drehen muss.
Auch der Begriff „windspion“ wird in einem der „Wasserspiegel“ erläutert: als „Bändsel (dünnes Tau, Leine), die an beiden Segelseiten festgemacht sind, um zu zeigen, wie das Segel vom Wind angeströmt wird“. Das gleichnamige Prosagedicht („6 Bft/starker Wind“) scheint ganz dem Titel gemäß hin- und her zu flattern, wie mit sich selbst uneinig, übt sich dabei aber auch in (Selbst-)Ironie. Die Richtung stimmt!, möchte man der „kapitänin“ zurufen, die eine klug durchdachte wie abwechslungsreiche erste dichterische „ausfahrt“ komponiert hat, die gespannt auf mehr (und Lust auf Meer) macht.
windspion ich helfe bei den vorbereitungen, obwohl die bedingungen nicht stimmen. dieses boot ist nicht gebaut für wellengang. was soll schon sein. hören werden wir uns kaum und in den wellentälern auch nicht sehen. die rümpfe werden schlagen. optimale voraussetzungen für erschwerte kontrolle der ruderblätter, für eine lehrreiche ausfahrt, für spannung. ich halte dennoch mit, mich an die schritte. übung macht die kapitänin.
Greta Maria Pichler: Salzwasser. Rohstoff / Matthes & Seitz, Berlin, 2024. 84 Seiten, Euro 12,40