Reinhard Lechner liest Simon Konttas’ Stille Stunden
In den Gedichten von Simon Konttas vermischen sich Autofiktionales, philosophische und spirituelle Sinnsuche sowie kritische Zeitbilder. Die Szenen, Personen und Artefakte sind schlicht, doch scharf gezeichnet. Diese Lyrik nimmt „unsere Zeit“ unter die Lupe, die Gegenwart.
Cover © Sisyphus Verlag
Dabei ist sie nicht mit dem Bilderreigen überfrachtet, der das polyphone Hier und Jetzt auszeichnet und uns entsprechend gerne in zeitgenössischen Dichtungen begegnet. Es ist ein zurückhaltender lyrischer Ton, den Form und Inhalt ergeben und in dem Konttas meist Alltägliches beobachtet, manchmal schließlich eine Art Lehre festhält. Im titelgebenden Gedicht heißt es:
Doch manchmal, in sehr stillen Stunden, wenn sorglos man dies, jenes denkt, sieht man die vertrauten Dinge plötzlich so, als wär’n sie’s nicht. Die Gedichte in Stille Stunden, seinem fünften Gedichtband, sind lose auf sechs Kapitel verteilt. Es begegnen uns geistig und geistlich inspirierte Sprachgebäude (Glaube, Philosophie, Musik), Mensch-Natur-Szenerien (Sommer-Winter, Stadt-Land, In-Beziehung-Sein, Alleinesein) und alltägliche Tätigkeiten und Artefakte (Spaziergänge, Autofahrten, Briefe schreiben). Die Tatorte und Metaphern vom menschlichen Alltag und von seinen Abgründen wiegt der Dichter sorgfältig ab in den Silben und Assonanzen lyrischer Formen – bei aller Sinnsuche und Ernsthaftigkeit schimmert aber auch der Humor durch, wie in dem Gedicht „Das Grauen“:
Und du meinst wahnsinnig zu werden, weil dir in den Sinn kommt, dass es Menschen gibt, die Trampolin springen oder sich darüber streiten wer heute staubsaugen soll Beim Dichten öffnet sich uns ein Reflexionsraum, die Tür zu einer Kapelle, so könnte man es in Konttas’ Bildsprache sagen. Im Vorgang des Schreibens, in der „stillen Stunde“, können wir die kleinen und großen Dinge des täglichen Lebens mit frisch erwachten, mit unverstellten Augen sehen.
In Europa und allen Genres zu Hause
Konttas,1984 geboren in Helsinki und serbisch-finnischer Abstammung, ist Verfasser von Lyrik, Erzählungen und Romanen. Seine Veröffentlichungen in den verschiedenen Genres halten sich in etwa die Waage – eine handwerklich beachtliche Leistung, zwischen den Genres wechseln zu können. Es ist ein psychologischer Realismus und Spiritualismus, womit er den Figuren und Topoi in seinen Texten auf den Grund geht. Zuletzt ist der Gedichtband „Der Lauf aller Dinge“ (2022) bei der Wiener Edition Melos erschienen.
Neben spirituellen und existenziellen Motiven fallen in den Gedichten ästhetische auf. Etwa klassische Musikstücke und die Wucht, die ihr Anhören beim lyrischen Ich auslöst. Bach, Beethoven und Schubert kommen vor – so in den Gedichten „Im Konzert“ oder „Gedanken beim Anhören eines Klavierkonzerts von J. S. Bach“:
Als ich eines Nachts, so gegen dreiundzwanzig Uhr, wieder einmal Bach hörte (das Klavierkonzert in G-Moll, BWV 1058) und der dritte Satz begann, da wurde mir klar (zumindest schien’s mir so) dass ich meine Schwächen verdecke und dass Langeweile und Schwermut direkt proportional sind zur Angst, die Tyrannen beim Namen zu nennen Auch seiner nordischen Heimat entnimmt Konttas immer wieder Motive. So erscheinen etwa Naturphänomene wie die „Mitternachtssonne“:
Im Zimmer, wo es dämmert, hat ein Streifen Lichts sich braun gelegt auf einen Stuhl, wie müd und satt. Im Zimmer, wo sich nichts bewegt. Auch Kissel, original „Kiiseli“ wird bedichtet, eine finnische Nachspeise aus Fruchtsaft, ähnlich der Roten Grütze, oder ein typisches finnisches Haus („Ein Haus“).
Die Moral der Gedichte
Konttas ist ein Dichter, der „klassische“ lyrische Formen und Stilmittel wie das Sonett oder den Kreuzreim einsetzt, so in „Urbane Tragödie“:
Von ihrem Ex ist ihr geblieben der Dildo aus dem Sextoyladen. Sie ritzt sich, denn sie will ihn lieben. Sie isst aus Frust nur Schokoladen. Ein wenig moralisch streng wirken diese Gedichte hier und da, die Strenge der Formen verleiht den Themen eine Absolutheit, wenngleich auch die Ironie jedenfalls ankommt. Und der Einsatz von Kreuzreim macht beim Lesen zwar Spaß, aber „Sextoyladen“ und „Schokoladen“ bilden phonologisch streng genommen keine identischen Reime, da nicht dieselben gesamten Wörter gereimt werden, sondern nur Silben dieser.
Auch im Sonett „So etwas wie eine Diagnose“ – dessen Verfassen bereits eine lyrische hohe Kunst ist – erhebt sich der moralische Zeigefinger gefühlt ein wenig sehr stramm:
Die Welt, wie sie lebt, ist allmählich vergreist. Straßen und Plätze sind uniformiert. Der Mensch ist gelangweilt und seelisch vereist und glaubt, er hat Sex, da er nur onaniert. Die stärksten Gedichte, und das sind im Band sehr viele, gelingen ihm, wenn Konttas in freien Rhythmen dichtet, etwa in „Mitternachtssonne“. Wobei … In „Seelische Osmose“ zum Beispiel gehen dem Dichter auch die Versmaße und Reime wie zauberhaft von der Hand und eröffnen eine Atmosphäre stillen Erkenntnisglücks:
Seelische Osmose Kommen Freunde aus der Fremde, sieht fremd aus das Bekannte. Wohin ich meinen Kopf auch wandte, war das Alte ohne Hände, ohne Kopf und Fuß. Aus der Fremde winkt ein Gruß, nachdem ich ihn auch dorthin sandte.
Kritiker des eigenen Werkes
Das Nachwort zum Band hat Simon Konttas selbst verfasst. Es ist ein schwieriges Unterfangen, etwas Kluges, zugleich nicht Abgehobenes über die eigenen Texte festzuhalten. Diese Aufgabe sollte nicht den Dichter*innen selbst gegeben werden, ihrerseits ist der Text Statement genug. Konttas meistert sie aber clever:
„So etwas wie ein Nachwort, oder: der Versuch, etwas zum Schluss zu sagen, was vielleicht gar nicht eigens gesagt werden muss, weil es sich von selbst versteht; was aber gesagt wird, weil dem Autor danach ist; möge man es ihm nachsehen …“
Die Gedichte von Simon Konttas sind Bekenntnisse eines Geistlichen, eines Seel-Sorgers im wörtlichen Sinn, dies ist schließlich sein Brotberuf. Die Wiederkehr der literarischen Beziehung von Poesie und Spiritualität finden wir in der zeitgenössischen Dichtung wieder häufiger. In der österreichischen Dichtung etwa bei Bernadette Schiefer. In der internationalen hat etwa der Schotte John Burnside (1955–2024) ein lyrisches Werk hinterlassen, das mitunter von religiösen Motiven geprägt ist. Der Deutschlandfunk-Journalist Burkhard Reinartz hat in seinem bemerkenswerten Beitrag „Poesie und Spiritualität. Gottes lebendiges Schweigen“ 2018 ausführlich zu dieser Beziehung geschrieben. Wer die Gedichte von Stille Stunden liest, wird in sich diese Beziehung (wieder-)entdecken: „Und es reißt dich in das Hohe“ – dazu braucht man nicht gläubig zu sein.
Simon Konttas: Stille Stunden. Gedichte. Sisyphus Verlag, Wien und Klagenfurt, 2024. 116 Seiten. Euro 12, –