Klaus Ebner liest Sophie Reyers Falten hat die Zeit
Mit dem poetischen Titel Falten hat die Zeit legt Sophie Reyer einen weiteren Lyrikband vor, herausgegeben im Wiener Löcker Verlag. Der Titel gibt ein poetisches Setting vor, das die Autorin in vielgestalter Weise mit ihren Texten umsetzt. Bezüge zur fortschreitenden Zeit ebenso wie zum Altern werden angedeutet, doch rund um diese Ausgangspunkte entstanden auch weitere lyrische Botschaften.
Cover © Löcker Verlag
Sophie Reyer, geb. 1984, studierte Germanistik in Wien und Komposition an der Musikuniversität Graz und lebt als freischaffende Schriftstellerin und Komponistin in Baden. Seit 2009 ist sie Mitglied der Redaktion der Literaturzeitschrift Lichtungen. 2014 erlangte sie ein Diplom an der Kunsthochschule für Film und Medien Köln, Schwerpunkt Drehbuch. Zuletzt erschien im Löcker Verlag: Die Liebe der Seepferdchen (Roman).
Poetische Formulierungen können den Zugang zu Lyrik manchmal erschweren. Die Gedichte in diesem Buch sind nicht immer einfach zu verstehen und erfordern daher die ganze Aufmerksamkeit der Leser*innen. Insbesondere verkürzt Sophie Reyer sehr gerne – und das mitunter radikal; diese Gedichte erinnern mich an die Lyrik Paul Celans. Dort wie hier sollten sich Leser*innen wirklich Zeit nehmen, um den zumal wenigen Worten auf den Grund zu gehen, ihrer Bedeutung, konkret ebenso wie dem zugehörigen Wortfeld, nachzuspüren. Manche Gedichte lassen sich nur auf diese Weise erfassen.
: die Tür nach innen hin durchschreiten Weltweberin: deine Katatonie
Dieser Text scheint mir ein exzellentes Beispiel dafür zu sein. Beim ersten und raschen Durchlesen bleibt womöglich nicht viel hängen; die Tür klingt sehr konkret, während jedoch die zweite Strophe mit dem poetischen Begriff der „Weltweberin“ und gleich danach einem medizinisch-pathologischen Fachausdruck – „Katatonie“ beschreibt eine Form der Schizophrenie, verbunden mit Krämpfen und Wahnideen – die vermeintliche Einfachheit in Frage stellt. Die Tür erhält plötzlich eine metaphorische Bedeutung; es geht um Psychologisches, vielleicht sogar Spirituelles, und für mich erhält dieses kurze Gedicht auf einmal einen sehr persönlichen Touch und vermittelt dadurch vielschichtige Emotionen.
Raffinierte Konstruktionen
Reyers Gedichte weisen sehr unterschiedliche Längen auf. Es gibt Gedichte, die nur zwei oder drei Verse haben, während sich andere über mindestens zwei Seiten erstrecken. Sehr auffällig ist, dass die Autorin eine Vorliebe für Enjambements hat, die mitunter sogar eine Strophentrennung enthalten; insbesondere bei den sehr kurzen Gedichten setzt sie diese Technik häufig ein und erzeugt dadurch Pausen ebenso wie Hervorhebungen:
: immer war ich ein guter Vogel aber den Traum kann keiner sehen
Die Gedichte tragen keine Titel, beginnen aber jeweils mit einem Doppelpunkt als Signal des Anfangs. Insbesondere bei sehr langen Texten ist dies hilfreich, weil dadurch bereits auf den ersten Blick klar wird, was zusammengehört.
: hier wo sich Gräser noch über Ufer traun sind wir Wolkenschieber und der Mond so Geheimnis wohnst du als Elfe in einer Regenrinne außeninnen ich bin das Mädchen mit den Träumen die als Ohrringe baumeln und Wünsche an die Decke malen kann Vögel baun Nester an meinen Armen und leben that’s all
Für den Rhythmus werden immer wieder Vokale aus der Schreibung herausgenommen, etwa „traun“ und „baun“, wodurch sich eine angenehme Satzmelodie ergibt. Das zeigt sehr deutlich, wie sehr sich die Autorin des Sprachrhythmus bewusst ist und auf welche Weise sie ihn einsetzt.
Ungewöhnliche Wörter, womöglich eigene Wortkreationen, vermitteln ein besonderes Flair. Gleichzeitig enthält dieser Text eine Anspielung auf das bekannte Mädchenbildnis „Meisje met de parel / Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ von Jan Vermeer. Der im Gemälde im Licht glitzernde Ohrring wird von Sophie Reyer in einem wunderschönen Bild zum Träger von Träumen stilisiert.
Große Themen
Thematisch ist der Lyrikband sehr vielfältig. Einerseits finden Leser*innen sehr persönliche Gedichte, Selbstreflexionen und die „Innenschau“ einer sensitiven Person, mutmaßlich der Autorin selbst. Andererseits fällt ein klares Bewusstsein hinsichtlich geopolitischer Ereignisse auf – und vor allem die alltägliche Gewalt in der Welt und die Kriege, die von den Medien in jeden Haushalt getragen werden. Auf diese Weise ziehen gewaltsame Konflikte sogar jene Menschen in ihren Bann, in deren Ländern eigentlich Frieden herrscht. Das folgende Gedicht illustriert diesen Mechanismus sehr bildhaft:
: Dass der Krieg abstrakt sei sagte man ihr: Die Toten flimmern auf dem Bildschirm du kannst sie weg klicken oder in bestimmten Programmen noch einmal erschießen kein Problem der Krieg sei ein Kinderspiel sagte man ihr er sei ein Ersatz für das Hauptabendprogramm ihre Häute aber zogen sich zusammen sie spürte mit jedem Mal Atemholen ihr eignes Gerippe nach/Lungen in Angst-/
Insbesondere der Tod taucht, keineswegs nur im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen, in einer ganzen Reihe von Gedichten auf. In einem der Texte heißt es: „wohin stellt uns der Wind / wohin gehen wir jetzt um / ein bisschen zu sterben?“ Hermetischer wirkt hingegen das folgende Gedicht:
: bog mich der Tod dessen Atmen im anderen einmal war: und die Grenze mehr als Verhinderung innerer Stimmen (so verging – )
Sophie Reyer setzt wiederholt Wörter oder Satzteile in Klammern. Diese können über mehrere Verse reichen. Die in einer eigenen Zeile schließende Klammer des obigen Gedichts scheint mir sehr eigenwillig, passt aber gut zum generellen Duktus.
Die persönlich klingenden Gedichte setzen sich unter anderem mit Beziehungen sowie Trennungen auseinander. Gefühle wie Melancholie, Trauer und Schmerz werden abgehandelt, und das geschieht oft in einer äußerst verknappten Art und Weise. Das folgende Gedicht wirkt auf den ersten Blick völlig unscheinbar, doch wer sich auf die Worte einlässt, bereit ist, in ihnen zu ruhen und ihr Bedeutungsfeld zu erspüren, kann plötzlich die Tiefe fühlen, die diesem Gedicht innewohnt, ein großes Bedauern und eine gewisse Resignation:
: schmaler Schatten aus Ich: noch einmal dein Verschwinden verhandeln: das ist alles
Sophie Reyer präsentiert mit Falten hat die Zeit poetische Statements zu weltpolitischen Ereignissen ebenso wie zum Seelenzustand eines lyrischen Ichs. „kling innen so / fein zerbrechlich“ heißt es in einem der Gedichte, und in einem anderen: „wer lernen will muss / von Vorne anfangen“. Womöglich können wir diese Aufforderung auch auf die Lektüre anwenden, denn jedes Neulesen deckt weitere Bezüge und Bedeutungen auf. Das Buch wurde vom Löcker Verlag mit einem schlichten, in Blautönen gehaltenen Cover gestaltet. Somit ist Falten hat die Zeit ein optisch, haptisch, inhaltlich und poetisch ansprechendes Buch zum Mitnehmen und Öfter-Lesen.
Sophie Reyer: Falten hat die Zeit. Löcker Verlag, Wien, 2023. 197 Seiten. Euro 19,80