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Chronik eines Tages

Chronik eines Tages

Anzhelina Polonskaya

Chronik eines Tages

Jahreszeit – Tauwetter, auf schmutzigen offenen Stellen
des Weges. Tageszeit – völlige Leere.
Ich gehe Marina zur Kreuzung bringen.
An der Pforte sage ich: »Warte mal.
Ich ziehe mir bloß Gummischuhe an.«
Laut Aussage Swedenborgs (Zitat) »besteht die Hölle
aus Durchschnittsbauten«.
Irgendein längliches rotes Taxi
wartet rechts von meinem Zaun.
Warum bitte ich es nicht herein?
In Gedanken antwortet es: Schon gut, ich steh hier noch ein Weilchen.
Ich schimpfe mit Mutter wegen eines umgeworfenen Schälchens mit Wasser.
Ich versuche es zu zerschlagen, aber das Schälchen geht nicht kaputt.
Nachdem ich den Hund, der schon lange tot ist, losgebunden habe,
kehre ich zurück – am Ende der Straße ist niemand. Auch am Anfang nicht.
Das Telefon antwortet nicht auf mein Klingeln.
Wir stehen am Rande des Bürgerkriegs,
aber es ist noch nicht bekannt, ob Pogrome bevorstehen.

Anzhelina Polonskaya: *1969 in Malakhovka, einer Vorstadt von Moskau. Karriere als Eiskunstläuferin, längere Aufenthalte in Lateinamerika, den USA, dzt. wieder in Deutschland; Publikationsverbot in Russland. Gedichtbände u.a. Schwärzer als Weiß (2015) und Grönland (2016; beide Ü.: E. Ahrndt).

Das Gedicht „Chronik eines Tages“ von Anzhelina Polonskaya erschien in: Unvollendete Musik. Gedichte. Aus dem Russischen von Erich Ahrndt. Leipzig: Leipziger Literaturverlag 2020. 140 Seiten. Euro 17,50

Die Dichterin Anzhelina Polonskaya liest am 16. Mai um 19:00 mit Ronya Othmann beim Lyrikfestival „dichterloh“ (Streamingslink) in der Alten Schmiede.

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