Michael Hammerschmid liest aber nicht damit des lettischen Dichters Semjon Hanin
Semjon Hanins Gedichte aus dem Band „aber nicht damit“ gleichen Rätsel. Zunächst ziehen sie einen ganz unmittelbar in ihre Szenen hinein. Die aufgerufenen Szenen, Orte, Situationen sind dabei äußerst vielfältig. In kaum einem Gedicht wiederholt sich Raum oder Zeit. Beide aber, Raum und Zeit, sind bei Hanin offen, aufgerissen vielmehr. So gelangt man in seinen Gedichten in unbekannte Räume, an Randzonen, in Zonen der Ungewissheit und Unsicherheit. Meist sind es heruntergekommene Zustände, mit denen man es zu tun bekommt und in denen einem Versatzstücke aus Alltag und Kultur begegnen. Beispielsweise „verklumpte Spickzettel“, eine „Tränengasdose“ oder eine Nachricht, dass die „Hypnoseséance“ verschoben würde. Die Kontexte, in denen diese auftauchen, lassen sich jedoch meist nur schwer einordnen. Semjon Hanins Gedichte entführen auf diesem Weg ins Abseits und in atmosphärisch stark aufgeladene, genauso absurde wie auch komische Welten, in denen man nicht zuletzt zum Raten, zum Suchen, zum Fragen aufgefordert wird. Titellos wie sämtliche Texte des Bandes versetzt uns zum Beispiel folgendes Gedicht schon zu Beginn mit beiläufiger Selbstverständlichkeit in einen Zustand des Rätselns, Vermutens, Nachdenkens:
weiterhin steht geschrieben, dass es nicht auf ewig so angenehm weitergeht wenn auch etwas unleserlich
hinter fragen
Man könnte sich fragen, wer hier überhaupt das, was geschrieben steht, verfasst hat? Wer außer dem Autor selbst? Und was mag angesichts dieser Zeilen das Wort „Autor“ dann bedeuten? Wer könnte „weiterhin“ festgelegt haben, „dass es nicht auf ewig so angenehm weitergeht“? Es scheint sich jedenfalls um eine unangenehme Botschaft zu handeln, die hier übermittelt wird. Aber um was für eine Schrift handelt es sich eigentlich?
Ein wenig gemahnt dieses „es steht geschrieben“ an die Bibel oder auch an einen Gesetzestext, freilich einen eher kafkaschen als juristischen … Dass das Geschriebene unleserlich ist, macht es dabei wohl um nichts vertrauenswürdiger. Oder ist es schlicht so alt, dass man es deshalb nicht mehr gut lesen kann? Wir wissen es nicht. Weiter heißt es dann:
eigentlich habe ich es ja nicht vorgehabt aber jetzt sage ich es trotzdem auch wenn hier vielleicht nicht der richtige Ort ist den eigenen Senf dazuzugeben und auch wenn es schon viele vor mir gesagt haben
stimmen hören
Hier hört man eine Stimme weitersprechen, denn eine Art Sprechen ist es, wie in vielen Gedichten Semjon Hanins, auch wenn man nicht erfährt, welchem Sprechen, welchem Gespräch, welcher Rede man hier tatsächlich beiwohnt. Auch erfährt man nicht, warum es „nicht der richtige Ort ist“. Die Stimme, die Person scheint sich an diesem Ort jedenfalls nicht (wirklich) wohlzufühlen. Aber warum? Und muss man nicht ins Treffen führen, dass die Stimme sich doch ziemlich kolloquial („den eigenen Senf dazugeben“) äußert, gleichsam so, als gehöre man als Zuhörer, Zuhörerin, Leserin, Leser dazu? Befinden wir uns somit nicht doch an einem Ort, der zumindest durchaus so ein vertrauensvolles Sprechen erlaubt? Was die Stimme jedenfalls zu sagen ankündigt, denn um eine Ankündigung handelt es sich, ist so neu nicht, und doch spricht sie für andere, nämlich für die, die es „vor mir gesagt haben“. Auch die Stimme äußerst sich also auf eine Weise, die auf ein Kollektiv verweist (wie das für viele scheinbar verbindliche Geschriebene zu Beginn des Gedichts).
umkehr schluss
Dann fährt die Stimme des Gedichts fort und gibt die angekündigte Botschaft preis:
die Freiheit sich nicht gerade zu halten! zu schlurfen! den Bauch raushängen zu lassen!
Dieser Vers überrascht nun mehrfach, einerseits seiner Flapsigkeit wegen, es handelt sich zumindest auf den ersten Blick ja nicht gerade um eine weltbewegende Nachricht, die hier verlautet wird, sondern, wenn man so sagen kann, bloß um ein paar Anmerkungen zur Körperhaltung. Er überrascht aber auch seiner Hintergründigkeit wegen und der starken Hervorhebung durch die Rufzeichen halber. Am meisten aber wohl der Aussage wegen. Denkt man nämlich über die scheinbare Banalität der drei Imperative hinaus und macht etwa einen Umkehrschluss, dann lädt sich das Gesagte durchaus gesellschaftspolitisch auf. Denn worauf könnte das verweisen, sich gerade zu halten, stramm zu stehen, nicht zu schlurfen und nicht den Bauch raushängen zu lassen, wenn nicht auf einen militärischen Kontext oder eine strenge Kontrolle oder Überwachung? Das „Den-Bauch-Einziehen“, das Marschieren – eben nicht zu schlurfen – und der Zwang, sich gerade halten zu müssen – und eben stramm zu stehen –, wecken zumindest ziemlich deutlich die Assoziation zum Militär (oder zu anderen Männerkörperkulten). Das Gedicht funktioniert also auch hier über seinen Hintergrund, Untergrund, Abgrund, der sich auftut, wenn man den Zeilen nachhört, hinter die Zeilen hört.
selbst zensur
Der Schluss des Gedichtes fügt der repressiven Grundstimmung dann noch ein weiteres, radikales Bild hinzu, indem es heißt:
das ist mir jetzt so rausgerutscht, unklar, auch vom Bezug her sonst habe ich nichts mehr zu ich nehme meine Worte zurück
Das Ich nimmt das Gesagte, also das, was es zunächst ja direkt angekündigt hat, wieder zurück, bricht im zweiten Satz auch ab, bringt seine Aussagen gleichsam wieder zum Verschwinden. Aber warum? Durfte es das Gesagte gar nicht sagen? Herrscht tatsächlich soviel Repression und Gefahr, dass das Ich letztlich sogar sich selbst zensurieren muss? Das Gedicht entführt einen auf diese Weise in einen rätselhaften, zur Deutung anregenden, düsteren und zugleich komisch-tragikomischen Raum, in dessen Rätselhaftigkeit dennoch deutlich spürbar ist, dass es in dem Gedicht um etwas Essenzielles, Existenzielles geht. Gerade dass das Ich sich in seinem Reden verschwinden macht, gibt der paradoxen Aussage des Verschwindenden eine signaturhafte Deutlichkeit, und das Geschriebene steht unverrückbarer als im Gedicht suggeriert da, zumindest solange „aber nicht damit“ vorliegt, greifbar ist, gelesen und erinnert wird.
Es sind solche Räume, die Semjon Hanin zu erschaffen versteht, die zwischen Allusion und Konkretion, zwischen Situation und Parabel, zwischen Frage und möglicher Antwort ihre Balance finden. So erscheinen seine Gedichte wie Echolote in von Außen(t)raum durchwachsenen Innenräumen, die an verschiedene „Bewusstseine“ und Arten der Wirklichkeitsproduktion angeschlossen werden können. Semjon Hanins Gedichte drehen auf vertrackt intelligent Weise an unserem Wirklichkeitsbegriff, verstören die Wahrnehmung zur Wachheit hin, durchwachen die unhinterfragten Verstehens- und Wahrnehmungsmuster als vielschichtige Aussagen, wie wir sie angesichts von Krieg und Zerstörung, Faktenverschleierung und -leugnung, Repression und Lüge dringender denn je brauchen.
Semjon Hanin, geb. 1970 in Riga, ist ein auf Russisch schreibender lettischer Dichter. Er ist Gründungsmitglied von Orbita, einer multimedial agierenden Gruppe russischsprachiger Dichter und Künstler aus Lettland, die national wie international Aufmerksamkeit findet. Mit »aber nicht damit« liegt erstmals ein eigenständiger Gedichtband des Autors auf Deutsch vor.
Semjon Hanin: aber nicht damit. Gedichte. Aus dem Russischen von Anja Utler. Edition Korrespondenzen, Wien, 2021, 184 Seiten, Euro 22,–